Mit der These, dass irgendwas aus der eigenen Gegenwart “in die Geschichte eingehen” wird, sollten Zeitgenossen sicher vorsichtig umgehen. Dennoch nicht unwahrscheinlich, dass 2012 als Jahr des beginnenden Zeitungssterbens in die deutsche Mediengeschichte eingeht. Unter soviel Medienbeachtung (z.B. hier der NDR-Film drüber) wie die FTD in Hamburg ist schließlich noch keine überregionale Zeitung eingegangen.
Was den deutschen Medienmenschen niemand vorwerfen kann: dass sie über die Zukunft der Zeitung nicht oft und ausführlich genug räsoniert hätten, und auch mit sämtlichen denkbaren Ergebnissen – etwa dem, dass diese Zukunft im Internet-Zeitalter (zumal für Tageszeitungen) endlich ist, und mit dem gegenteiligen natürlich auch. Manche Räsonnements greifen tief in die Vergangenheit zurück. Springerkonzern-Chef Mathias Döpfner etwa schaute u.v.a. “auf die Ursprünge des Journalismus…, etwa die von Johann Carolus in Straßburg vor mehr als 400 Jahren herausgegebene erste Zeitung”, um die Zukunft der digitalen Zeitung zu beschwören.
Carolus’ “Relation aller Fürnemmen und gedenckwürdigen Historien” gilt als älteste in den “Presßen” entstandene Zeitung, seitdem in den 1990ern seine anno 1605 geschriebene Bittschrift (PDF) dazu an den Rat der damals noch deutschen Reichsstadt Straßburg entdeckt wurde. Ihre ältesten noch auf Papier vorhandenen Ausgaben sind einen Tick jünger, sie stammen aus dem Jahr 1609, aus dessen Januar jedoch auch Ausgaben einer anderen, der vermutlich also zweitweltältesten Zeitung vorliegen, der daher vermutlich auch der Titel “älteste erhaltene Zeitung in Deutschland” gebührt. Die heißt “Aviso” und kommt aus Wolfenbüttel (Niedersachsen).
Fährt man heute nach Wolfenbüttel, hat eine der beiden touristischen Top-Attraktionen der Stadt tatsächlich mit bedrucktem Papier zu tun. “Als achtes Weltwunder wurde die Herzog August-Bibliothek schon vor gut 300 Jahren gefeiert. Sie war zur Zeit des Todes von Herzog August 1666 eine der berühmtesten fürstlichen Büchersammlungen und, was die Zahl der Drucke anlangt, wohl die größte Bibliothek der Welt…”, informiert die genannte Bibliothek auf ihrer Webseite. Einen ziemlich frischen, noch vor wenigen Jahrzehnten gültigen Ex-Superlativ hat sie auch zu bieten: Dort lagert das zeitweilig (von 1983 bis 1994) “mit 32,5 Millionen DM teuerste Buch der Welt”, das Evangeliar Heinrichs des Löwen, und wird “aus konservatorischen Gründen nur alle zwei Jahre für wenige Wochen ausgestellt”.
Außerdem ziert die Geschichte der Bibliothek ein prominenter Bibliothekar: Gotthold Ephraim Lessing wurde 1770 als solcher vereidigt (und schon die Vereidigung zeigt den Ernst der damaligen Beschäftigung mit Büchern). “Ich wohne in einem großen verlassenen Schlosse ganz allein, und der Abfall von dem Zirkel, in welchem ich in Hamburg herumschwärmte, auf meine gegenwärtige Einsamkeit ist groß”, schrieb er im selben Jahr. Immerhin bekam er in der Provinz das damals auch nicht selbstverständliche Privileg der Zensurfreiheit erteilt, das dann vor allem zum Goeze- bzw. “Fragmentenstreit” führte. In diesem Zusammenhang wurde ihm diese Freiheit 1778 wieder aberkannt. Auch wenn Zensur natürlich grundsätzlich schlecht ist, war das vielleicht keine rundum schlechte Idee, schließlich ist der Streit nicht mehr ganz leicht vermittelbar, während das Drama “Nathan der Weise”, das Lessing nach Aberkennung der Freiheit dichtete, immer noch gern aufgeführt wird. Solche Geschichten bereitet das kleine Lessingmuseum neben der Bibliothek auf. Dieses Gebäude hatte Lessing in seiner späteren Wolfenbütteler Zeit bewohnt.
Seine anfängliche Einsamkeit im verlassenen Schloss kann man sich noch ganz gut vorstellen, denn dieses Schloss (Foto oben), wiederum neben dem Lessingmuseum, ist wirklich groß, nach eigenen Angaben das “zweitgrößte Schloss Niedersachsens”.
Leer stand es zu Lessings Zeiten, weil die dort einige Jahrhunderte lang residierenden Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel (die aus komplizierten Gründen oft auch den Titel “von Braunschweig-Lüneburg” trugen, obwohl sie über Lüneburg niemals herrschten und lange nicht einmal über Braunschweig so richtig…), nachdem sie die Macht über Braunschweig zurückgewonnen hatten, ihre Residenz 1753/1754 dorthin verlegt hatten (ins damals gerade, dann aber auch später noch öfter neu erbaute Schloss, über das ich auch schon schrieb).
“Die Auswirkungen auf Wolfenbüttel waren katastrophal, wie an den später entstandenen Fachwerkbauten abzulesen ist. 4000 Bürger folgten der herzoglichen Familie und Wolfenbüttels Bevölkerung sank von ehemals 12.000 auf 7.000”, heißt es in der Wikipedia. Solange dort Herzöge regierten, war Wolfenbüttel eine Residenzstadt mit allem Pipapo gewesen. Davon zeugt z.B. im Schlossmuseum das “Paradeschlafzimmer”, das der um die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert regierende Herzog Anton Ulrich weniger zum Schlafen als zum Repräsentieren, also zum Empfangen von Gästen benutzt haben soll. Er habe das Bett mit gelbem Damast beziehen lassen, wie es sonst seinerzeit bloß Kaiser oder wenigstens Könige taten, weil er einem Trend im damaligen Heiligen Römischen Reich entsprechend (aber vergebens) hoffte, auch selbst einen noch schöneren Titel als bloß “Herzog” verliehen zu bekommen.
Was in der Stadt u.a. an die Residenzzeit erinnert: das Grachtensystem, zu dem ein niederländischer Ingenieur den Fluss Oker (den der katholische “Pappenheimer” im Dreißigjährigen Krieg zum Erobern der Stadt benutzt hatte), ausgebaut hat und das Einheimische heute gern “Klein Venedig” nennen. Drumherum ist Wolfenbüttel ein entspannt wirkendes Fachwerkstädtchen, sogar so sehr mit Leib und Seele Fachwerkstädtchen, dass selbst eine verlassene und verrammelte Karstadt-Filiale in Fachwerk-Optik besprüht wurde.
Schräg gegenüber befindet sich der Ursprung der zweiten Top-Attraktion Wolfenbüttels, die die Stadt noch heute in der Weltspitze verankert – zumindest in den “Top 10 der Premium Spirituosenmarken weltweit” (wie es in der Stadtbroschüre [PDF] auf S. 11 heißt): das Stammhaus der “Jägermeister”-Firma Mast (hier die Webseite mit tollem Jugendschutz). Der prominente Schnaps stammt nicht aus der Feudalzeit, sondern aus der Nazizeit. Er wurde im Jahre 1935 erfunden. Später wurde er dann auch unter Fußballfans als Pionier der in inzwischen ebenfalls schwer vorstellbaren Frühzeiten ja verpönten Werbung berühmt.
Was Fußball betrifft, gibt’s gleich noch eine Verbindung zwischen Braunschweig und Wolfenbüttel. Dessen Schloss, das heute nicht bloß als Museum, sondern auch als lebhaftes Gymnasium dient, war 2010 der Haupt-Drehort des zumindest unter Ausstattungsaspekten sehenswerten Fußball-Kino-Degetofernsehfilms “Der ganz große Traum”, der erzählte, wie der deutsche Fußball in Braunschweig entstand. Das Schloss spielte die Braunschweiger Schule, an der Daniel Brühl in der Rolle des Lehrers Konrad Koch seinen Schülern das Kicken beibringt.
Ach so, die Zeitung… … Als Geburtsstadt der vielleicht zweitweltältesten oder ältesten erhaltenen Zeitung machte Wolfenbüttel 2009 Schlagzeilen, weil sich zum Vier-Jahrhunderte-Jubiläum der WAZ-Zeitungskonzern aus Essen in diese Tradition gestellt hatte. Das kam daher, dass die “Wolfenbütteler Zeitung” 1993 in der “Braunschweiger Zeitung” aufgegangen und diese 2007 von der WAZ gekauft worden war, deren damaliger Geschäftsführer Bodo Hombach als vorheriger Gerhard-Schröder-Buddy ja Verbindungen nach Niedersachsen hatte. Er packte die Gelegenheit beim Schopf, eines jener “Plädoyers für Qualitätsjournalismus” zu halten, die inzwischen in Zeitungszukunfts-Debatten immer so schnell ermüden.
Heute zu diesem 2009-er-Festakt im Internet zu finden ist der Bericht “Bodo Hombach: Die Zeitung ist das Lebenselixier der Demokratie/ Tausend Besucher feiern 400 Jahre ‘Aviso’ im Braunschweiger Dom – Auch Ferdinand Piëch unter den Gästen”, dessen Tenor schon andeutet, dass die “Braunschweiger Zeitung” der WAZ-Ära zu den allerherausragendsten Regionalzeitungen der Gegenwart nicht zählt.
Ein kleines Stückchen Mediengeschichte aber schreibt sie anno 2013 vielleicht doch. Der WAZ-Titel habe “als erste Regionalzeitung nun für sein Onlineportal eine Bezahlschranke eingeführt”, wurde gerade berichtet. Ob so etwas der Tageszeitung zu einer besseren Zukunft hilft – darüber könnten Medienmenschen in zehntausende Zeichen langen Texten und viele Podiumsdiskussionsstunden lang diskutieren.
Der “Aviso” übrigens war eine Wochenzeitung, was für die Zeitungszukunft vermutlich wieder ein sinnvolleres Format als das der Tageszeitung sein wird. Seine erhaltenen, inzwischen fast 404 Jahre alten Ausgaben aber liegen gar nicht in der Wolfenbütteler, sondern in der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Bibliothek in Hannover.