Womöglich haben Einheimische in Naumburg (Sachsen-Anhalt) einen leichten Uta-Overkill erlitten. Das Plakat mit dem einzigen bekannten Gesichtsausdruck der bekanntesten Figur des Naumburger Meisters, der Humphrey-Bogart-haft den Mantelkragen hochschlagenden Uta (von Ballenstedt), ist ja schon überregional bemerkenswert präsent. In Naumburg selbst prangt es außer auf jeder regulären Werbefläche auch noch auf vielen extra eingerichteten. Dabei sollte sie gerade unter Naumburgern wirklich bekannt sein…
Immerhin handelt es sich beim Herrn, der neben ihr ebenfalls oft erscheint, nicht um den im Naumburger Dom neben ihr stehenden Ekkehard, sondern um eine Leihgabe aus Paris, den Frankenkönig Childebert aus dem Louvre. Andererseits werben all die Plakate auch nicht bloß für eine, sondern für eine Menge Ausstellungen.
Bei der Hauptausstellung im Dom würde ich raten, am Anfang auf den Genuss des Dröhnfilms über die Gotik an sich zu verzichten, und vielleicht auch, die vorgeschlagene Reihenfolge zu unterlaufen, also erstmal in den Dom selbst zu gehen und sich die Hauptattraktionen (darunter Uta und die anderen lebensgroße Stifterfiguren) anzusehen. Sofern man nicht erst mit lauter Details angefüttert werden möchte, die sich erst ganz am Ende zu einem Bild verbinden, ergibt es Sinn, erst anschließend dem Rundgang zu folgen.
Grundsätzlich ist die Ausstellung mit ihrer These vom Bildhauerarchitekt aber nicht bloß sehenswert. Die Spurensuche nach dem sog. Naumburger Meister, dessen Handschrift sich von Reims bis nach Meißen verfolgen lassen könnte, der als Person aber völlig unbekannt ist (und folglich auch gar nicht eine Person gewesen sein könnte), ist sogar spannend.
Ebenfalls interessant: die Uta-Ausstellung im Naumburger Stadtmuseum, die die Geschichte der jenseits Naumburgs für einige Jahrzehnte zuletzt wieder weniger bekannten Ikone seit ihrer Entdeckung (viele Jahrhunderte nachdem sie geschaffen wurde, denn vom 13. bis Anfang des 19. Jahrhunderts kümmerte sich kaum ein Mensch oder zumindest kein schreibender darum) widerspiegelt. Auch wenn diese Ausstellung manche spektakulären Details der Interpretationsgeschichte etwas hochjazzt: dass der Uta-Gesichtsausdruck der bösen Königin im Disney-“Schneewittchen”-Zeichentrickfilm von 1937 nach dem Brüder-Grimm-Märchen (vgl. Youtube) als Vorlage diente, hat niemals ein Beteiligter gesagt, sondern ist die These eines oder zweier in den 2000er Jahren erschienener Bücher. Und dass Umberto Eco dem “Stern” gegenüber einmal angab, lieber mit Uta als mit Mona Lisa essen gehen zu wollen – ähm, hat jemand nachgeschaut, was Eco französischen oder italienischen Illustrierten auf ähnliche Fragen gesagt hat?
Dennoch frappiert es, wieviel völlig Unterschiedliches in diese Uta bereits hineingelesen und herausinterpretiert wurde. In “Der ewige Jude”, einem der übelsten Nazi-Propagandafilme, erschien sie als Beispiel für nicht “entartete” deutsche Kunst – und Ende 1944 dann gar in der Zeichnung eines “SS-Kriegberichters” hinter Wehrmachtssoldaten, die “um die Kultur Europas” kämpfen sollten, so die Bildunterschrift. Zumindest sorgte diese “Kultur” noch dafür, dass Anfang 1945 im Vernichtungslager Auschwitz auch Rudolf Bamberger ermordet werden konnte. Er war der Regisseur des Kulturfilms “Die steinernen Wunder von Naumburg” (1932), der mit zur Popularität Utas beitrug und in der Nazizeit 1937 weiterverwendet wurde.
Auch sonst ist das Naumburger Stadtmuseum, das im restaurierten Altbau “Hohe Lilie” am Marktplatz steht, ein gutes. Es findet die Balance zwischen der Geschichte der eigenen Stadt und der allgemeinen, größeren. Zum Beispiel zeigt es, wie Naumburg im 19. Jahrhundert, als es eine preußische Provinzstadt war, aus dem Umstand, dass es wenig Industrie gab, einen Standortvorteil machte und sich zur “Pensionopolis” entwickelte. So zogen viele wohlhabende ältere Einwohner zu. Und trugen dann, deutet das Museum an, zur Atmosphäre bei, in der Friedrich Nietzsche aufwuchs und seine Ideen über die “Degenerescenz” seiner Gegenwart und die nötige “Umwerthung aller Werte” entwickelte, also “mit dem Hammer” philosphierte.
Beim Nietzschehaus handelt es sich um das Haus, in dem der Philosoph das umnachtete letzte Jahrzehnt seines Lebens weitgehend verbrachte, also die Zeit, nachdem seine Mutter, die dort eigentlich wohnte (und mit ihren Kindern nach dem Tod ihres Mannes nach Naumburg gezogen war) ihn aus der “Irren-Heilanstalt” Jena zu sich geholt hatte. “Die Mieter fühlen sich durch die Anwesenheit des oft brüllenden Kranken belästigt und ziehen nach und nach aus”, wird im Nietzschemuseum erklärt. Man kann auf die Veranda treten, auf der Nietzsche mit seinem üppig wucherndem Schnurrbart wohl oft gesessen hat, ohne von seinem sich entwickelnden Ruhm etwas zu ahnen (und ohne den heute vorhandenen Ausblick auf das hypermoderne Nietzsche-Dokumentationszentrum).
Angesichts der weitgehend erhaltenen, heute pittoresken Stadtmauern wirkt das Häuschen von überall beengt. Auch wenn diese Stadtmauern (von denen Naumburg gleich zwei besaß, um Bürger- und Bischofsstadt) im 19. Jahrhundert keine Rolle mehr spielten, glaubt man zu verstehen, warum Nietzsche, solange er seinen freien Willen hatte, lieber im Süden herumreiste und nur, als er eher musste (etwa zum Militärdienst), zurück kam.
Diesem anderen Naumburger Meister ist ein hübsches Denkmal auf dem Holzmarkt gewidmet, das nicht nur dadurch, dass es vor einer Schlecker-Filiale steht, leichte Ironie gewinnt.