Wer sich etwas mit dem Kurfürstentum und Königreich Hannover beschäftigt, zu dessen globalem Fame gehört, dass seine Herrscher 123 Jahre lang, bis zum Viktorianischen Zeitalter, auch englische Könige waren und Großbritannien solange zumindest nicht daran gehindert hatten, zur ersten Weltmacht aufzusteigen, der stößt auf Calenberg.
Das Fürstentum Calenberg wird oft “Kernland” des Territoriums genannt, das anschließend zum Kurfürstentum und Königreich Hannover wurde. Und es war ebenfalls nach seinem Haupt- und Residenzort benannt worden.
Wer dieses Calenberg dann also anschauen möchte und mit der Bahn anreist, muss auf der S-Bahn-Strecke zwischen Hannover und Hildesheim in Barnten aussteigen. Es könnte sein, dass dort am Bahnhof ein Lama steht. Dann geht man noch ein Stück geradeaus und biegt in Richtung Lauenstadt rechts ab. Dieses Lauenstadt ist anno 1327 tatsächlich als Stadt an der Burg Calenberg gegründet worden. Es hat sich aber nie zu einer solchen entwickelt.
“Heute ist Lauenstadt eine Straße mit sechs Häusern; mehr als doppelt so viel werden es auch in seiner ‘Blütezeit’ nie gewesen sein”, heißt es in der Geschichts-Chronologie auf schulenburg-leine.de. Dieses Schulenburg wiederum ist ein Ortsteil der Kleinstadt Pattensen, der nach Angaben derselben Webseite “3 Spielplätze, 1 Sportplatz, 1 Grundschule, 1 Kindergarten, 1 Arzt, 1 Zahnarzt, 2 Kirchen, 4 Friedhöfe, 1 Supermarkt, 1 Restaurant, 2 Bistros, 1 Homepage, 1 Kiosk, 1 Sparkasse, 1 Schloss” enthält. Und dieses Calenberg und dieses Lauenstadt sind Straßen in diesem Ortsteil. Beziehungsweise ist es bloß eine Straße, die irgendwo zwischen den sechs Häusern ihren Namen ändert.
Biegt man also auf der Straße “Zum Calenberg” am Ende der kleinen Ortschaft, noch bevor man an der Leine angelangt ist, rechts über eine kleine Brücke über einen Leinenebenarm ab, gelangt man zur Ruine der Burg Calenberg.
Ungeheuer viel zu sehen ist dort nicht. Eine Bastion deutet an, dass das, was heftig überwachsen ist, nicht allein der mit 70 Metern nicht herausragend hohe Calenberg ist, sondern auch der Rest einer einst starken Befestigung.
Außerdem liegt ein Verließ oberirdisch. Darin soll der Calenberger Herzog Erich II. drei Jahre lang Anton Corvinus gefangen gehalten haben, der in der Regierungszeit von Erichs Mutter i Herzogtum die Reformation eingeführt hatte. Nach diesem Corvinus, nach dem der weiteren Umgebung einige Kirchen wie z.B. diese benannt sind, heißt es Corvinusverlies.
Überdies steht eine Texttafel dort, die einen Merian-Stich der im 17. Jahrhundert noch stattlichen Burganlage zeigt und sowohl die komplexe Geschichte der Festung beschreibt als auch die Lebensweise der Fledermäuse, die heutzutage im Verlies leben. Man erfährt, dass das meiste, was von der Burg erhalten ist, unterirdisch liegt. Dann kann man auf den dicht bewachsenen Bastionen herumgehen und mit einiger Fantasie einen Eindruck von der einst gewaltigen Festung gewinnen. Erbaut wurde sie wegen der Nähe zur Leine, die lange den Grenzfluss zum Herrschaftsgebiet des Bistums Hildesheim bildete, mit denen sich die Welfen schon lange vor der Reformation gestritten hatten.
Die Calenberger Burg soll starken Belagerungen standgehalten haben, so 1519 einer durch “6.000 Mann zu Fuß und 900 zu Pferd”, und manchmal auch nicht standgehalten: Im Dreißigjährigen Krieg eroberten Truppen des Generals Tilly die Burg. Anschließend befand ein Herzog, dass “solche orter und kleine Vestungen weinig nutzen schaffen, und dagegen mit großen spesen und kosten musten manutieniret und unterhalten werden” (schulenburg-leine.de). Die Burg wurde aufgegeben und fand, wie viele unbenutzte Burgen, als Gefängnis Verwendung – das sogar sehr lange (von 1765 bis 1930). Die Calenberger Herzöge, die schon zur Zeit des oben erwähnten Erichs Zeiten mit Neustadt am Rübenberge und Hann. Münden weitere, wichtigere Residenzstädte hatten, zogen nach Hannover. Das war bis dahin eine eher freie Stadt gewesen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg, der arg in der Region gewütet hatte (wie etwa der nicht uninfame, aber gut lesbare Hermann-Löns-Roman “Wehrwolf” beschreibt), konnte es sich nicht mehr halten. Und bald danach, vor 300 Jahren, begannen die Ex-Calenberger über das englische Weltreich zu herrschen. Übrigens deshalb exakt bis zum Beginn des Viktorianischen Zeitalters, weil Hannover anders als Großbritannien keine Königin akzeptierte, sodass sich ausgerechnet mit Queen Victoria die Personalunion auflöste.
Der Staat Hannover war dann noch kurz ein eigenständiges Königreich, wurde bald darauf aber preußische Provinz … Die Silhouette der Marienburg, der Hannoveraner Neuschwanstein-Variante, die noch gar nicht ganz fertiggebaut war, als das Königreich Hannover anno 1866 zu bestehen aufhörte, lässt sich von der ehemaligen Residenzstadt Pattensen-Schulenburg-Lauenstadt-Calenberg aus ganz gut erkennen, hinter den fruchtbaren Äckern der Umgebung.
Was genau tut denn das Lama da gerade?
Hallo,
wirklich ein toll recherchierter Artikel. Habe ihn wirklich verschlungen.
Viele Grüße aus Calenberg
Anna-Lena