Das Schloss in Sassanfahrt, einem dörflichen Ortsteil des fränkischen Marktfleckens Hirschaid, ist so unscheinbar, dass ehrlich gesagt niemand staunen würde, wenn es sich bloß um etwas stattlicheres Mehrfamilienhaus handelte. Als genau das war es nach dem Zweiten Weltkrieg auch mehrere Jahrzehnte lang benutzt worden.
Ein paar 100 Meter weiter steht allerdings ein Häuschen, im Vergleich zu dem das Schloss sehr wohl Opulenz entfaltet.
Solche Tropfhäuser sind Hirschaid-Sassanfahrts eigentliche Sehenswürdigkeit. “Tropf-” bedeutet in diesem Fall: “ein Gebäude, dessen Grundstück gerade so weit reicht, wie bei Regen das Wasser von Dach und Traufe tropft”. Es gab einst eine ganze Menge davon in Sassanfahrt.
Das hat herrschaftsgeschichtliche Gründe: Die Ortschaft war im alten Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, wie das nahe Buttenheim, ein reichsritterschaftliches Territorium. Das heißt, wer sie besaß, besaß mehr oder weniger einen souveränen Staat, freilich einen sehr kleinen. Gegen Ende der HRR-Ära entfaltete auch so etwas auch Prestigewert – also Nachfrage und Angebot: Verarmte Adelssippen verkauften ganz oder teilweise ihre reichsunmittelbaren Gebiete und die dazugehörigen Titel. Und aufstrebende Familien oder gutverdienende Amtsmänner größerer Staaten kauften so etwas gerne. Sassanfahrt wurde im 18. Jahrhundert ziemlich oft verkauft, zum Beispiel an Träger so klangvoller Namen wie Gottfried von Schlammersdorf oder Ferdinand Graf von Ahlefeld-Rixingen. Vermutlich vor allem der Kleinheit des Ortes wegen, der laut Wikipedia ums Jahr 1750 etwa zwanzig Anwesen zählte, nutzten sie freilich auch schnell Gelegenheiten zum Weiterverkaufen.
Erst die Mediatisierung anno 1806 ließ solche Kleinststaaten von der Landkarte verschwinden. Letzter Käufer und damit letzter souveräner Herrscher Sassanfahrts vor der Eingliederung nach Bayern (das damals zum Königreich wurde und sich sehr vergrößerte) war Friedrich Julius Heinrich von Soden. Auch der war beruflich für Fürsten etwas größerer Staaten tätig: für den letzten Markgrafen von Brandenburg-Ansbach und dann auch für Preußen (an das dieser Markgraf seine vergleichsweise mittelgroßen Fürstentümer schließlich verkaufte). 1784 erwarb von Soden für 54.400 Gulden die Herrschaft Sassanfahrt, 1790 wurde er gar noch zum zum Reichsgrafen erhoben. Und er entwickelte Ehrgeiz der späten Aufklärung und nahm vor allem die Idee der “Peuplierung” auf, also der Vergrößerung seiner sehr kleinen Herrschaftsbereichs – nicht territorial, aber nach Einwohnerzahl. Damals gab es
“die einfache Regel: mehr Untertanen = mehr Geld. Steuern, Abgaben etc. waren nur durch Siedler zu gewährleisten. Eine große Einwohnerschaft galt zudem als Maßstab für die Wohlhabendheit des örtlichen Territorialherren”,
schreibt die lokale Historikerin Annette Schäfer in der Broschüre “Das Museum Tropfhaus Sassanfahrt”. Und eigene vier Wände als niedrigschwellige Angebote, um Untertanen anzulocken, waren keine aus der Luft gegriffene Idee. Schließlich galt Freizügigkeit für Untertanen seinerzeit keineswegs. In Städten wie dem nahen Bamberg konnte sich nicht ansiedeln, wer das wollte. Tatsächlich sei Sassanfahrt schnell gewachsen und habe schon anno 1808 über 100 Familien beherbergt, erfährt man im Tropfhaus (das heute ein – kleines! – Museum ist).
Allerdings, viele weitere Ideen, womit die Tropfhausbewohner dann ihren Lebensunterhalt und Steuereinnahmen für ihren Fürsten verdienen sollten, verfügte von Soden wohl eher nicht. Beziehungsweise hatte er viele Interessen und das an Sassanfahrt schnell verloren. Das Schloss (das nach einem Brand im späteren 19. Jahrhundert wohl neugebaut, dabei aber gewiss nicht verkleinert wurde) und sein Residenzdorf verließ er dann 1811, um lieber in der Stadt Erlangen zu leben.
“Über die wachsende Kriminalität der Einwohner von Sassanfahrt wurde schon 1808 berichtet: ‘Es ist aktenkundige Wahrheit, dass sich daselbst eine Pflanzschule von Bettlern… bildete'”,
heißt’s im Wikipedia-Artikel. Kein Wunder, dass von Soden und Sassanfahrt damit in die überregionale Politik- oder Wirtschaftsgeschichte nicht eingegangen sind. Eher stößt man auf den Grafen in der Kulturgeschichte – weniger allerdings wegen der zahlreichen von ihm selbst verfassten Werke zwischen “Doktor Faust, ein Volksschauspiel (1797) und der Erzählung “Franz von Sickingen” (die teilweise als Google-Digitalisate online zur Verfügung stehen). Sondern weil der wie angedeutet vielseitig interessierte Graf 1804 in Bamberg ein Theater errichtete. Und das machte insofern Literaturgeschichte, als dass dort kurz darauf ein ehemaliger preußischer Verwaltungsbeamter sein Glück als Theater-Kapellmeister suchte. Das fand der zwar so auch eher nicht, aber zu einem mindestens ziemlich guten Schriftsteller wurde E.T.A. Hoffmann in Bamberg, und dabei spielte der Reichsgraf eine Rolle.
Falls sich übrigens jemand über den klangvollen Namen Sassanfahrt wundert: Der verweist der Lokalgeschichte zufolge auf einst, etwa ein Jahrtausend vor Graf von Soden, dort angesiedelte Sachsen – was zum Kurisoum führt, dass dieser spätantike Germanenstamm nicht nur in drei gegenwärtigen Bundesländern namentlich enthalten ist, sondern außer in Schleswig-Holstein gar noch im heutigen Bayern anklingt (um vom angelsächsischen Raum ganz zu schweigen).
[Ich kam 2015 in Sassanfahrt vorbei; damals entstanden auch die Fotos. Ich las bloß kürzlich eine E.T.A.-Hoffmann-Biografie …]