Wenn man schon Schlösser als Symbole sieht, kommt man kaum um das Harz-Neuschwanstein herum, das mit vielen Türmen und Zinnen über der umfassend restaurierten Fachwerkstadt Wernigerode in Sachsen-Anhalt thront (deren Stadtteil Hasserode Nutzern aller bierwerbungsrelevanter Medien zumindest namentlich bekannt ist).
Im Mittelalter war es eine mächtige und solange uneinnehmbare Burg, bis sie vom noch etwas höher gelegenen Agnesberg herab, von dem aus man einen wirklich schönen Blick auf Burg und Brocken hat, beschossen werden konnte. Heute ist es ein Museum der Schloss Wernigerode GmbH, die sich gern mit einem Warenzeichen-® schreibt, wie es vor ein paar Jahren der Academy Award-Oscar tat, als der seinen Markennamen gegen Sonstwas-Oscars schützen wollte.
Zu sehen sind “50 original eingerichtete Wohnräume des europäischen Hochadels aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts” (siehe virtuelle Tour). Besonderen Wert legt das Museum auf die Wiederherstellung der “Originalität des Raumeindrucks”, viel Mühe wurde auf die Rekonstruktion der Original-Seidenwandbespannung unter anderem im gräflichen Schlafzimmer aufgewandt – einer wahrscheinlich durchaus stilvollen Wandbespannung, allerdings keiner enorm alten. Die “originalen” Raumeindrücke stammen von zum Beispiel 1880, denn was heute zu besichtigen steht, ist das neogotische Schloss aus der Epoche des zweiten deutschen Kaiserreichs. Damals war Schlossherr Otto zu Stolberg-Wernigerode bis zum Vizekanzler Bismarcks und zum Oberstkämmerer des zweiten Kaisers Wilhelms aufgestiegen. Und ließ seinen Sitz standesgemäß kräftig umgestalten.
Dass dasselbe Burgschlossdings zwischen damals und heute ähnlich und doch völlig anders genutzt wurde, erfährt nur, wer die zahlreich vorhandenen Erklärtafeln intensiv durchliest. In der DDR interpretierte am selben Ort ein “Feudalmuseum” dieselben Räume als “Höhepunkt der spätfeudalistischen Dekadenz”. Daran erinnert heute noch ein hinter Ritterrüstungen an der Wand hängendes Gemälde des Malers Willi Sitte (vgl. hier auf der Schloss-Webseite; im Schloss darf man eigentlich nicht fotografieren). Zu DDR-Zeiten illustrierte das Bild die nicht ganz aus der Luft gegriffene Ansicht, dass in noch viel länger zurückliegenden Epochen der Adel auf dem Rücken des Bauernstandes lebte
Im Wilhelminismus, der heute so liebevoll rekonstruiert wird, diente das Schloss zugegebenermaßen nicht ausschließlich zu Jagdpartien der Kaiser, deren Besuche die Schloss-GmbH sorgfältig aufzählt. Außerdem erarbeitete der Schlossherr damals dort auch etwas, das in der deutschen Geschichte seit 1883 quasi durchgehend eine Rolle spielt: das unter Bismarcks Namen berühmt gewordene Sozialversicherungsgesetz. Auch zugegeben: die Verse, die die den Erklärtafeln zufolge “künstlerisch begabte Gemahlin” Anna des Grafen Otto dichtete (“Oh Welt der Kunst, so reich und schön/ Mir wars, als müsst ich da hinein./ Nun fühl ichs wohl, es soll nicht sein./ Und bleibe sehnend draußen stehn. …”), haben durchaus Charme.
Vielleicht, wahrscheinlich war es also ungerecht, das Repräsentationsbedürfnis der Kaiser-Zeitgenossen allein unter dem Aspekt von spätfeudalistischer Dekadenz zu betrachten. Vor allem auf die Authentizität von Seidenwandbespannungen und anderer Inneneinrichtung zu achten, ist allerdings auch seltsam. Dass diese Epoche endete, als die Mehrheit der Deutschen mit Hurra in den Ersten Weltkrieg zog, wäre nur ein Grund, sie heute mit zumindest ähnlicher Distanz wie die DDR anzuschauen. Spannend wäre, wenigstens darauf hinzuweisen, dass es in einer nur unwesentlich jüngere Epoche der deutschen Geschichte auch diese andere Betrachtungsweise der DDR gab. Warum nicht von den 50 besichtigbaren Räumen zwei, drei “originale” von 1949 rekonstruieren, z.B. mit einer “So lebten die Fürsten – so die Proleten”-Schautafel, von der der “Spiegel” anlässlich der vorletzten Schlossmuseums-Umwidmung (natürlich in ebenfalls zeittypischer Prosa) berichtete? Schließlich ist auch Originalität relativ, wenn die Geschichte lang ist.
Was übrigens für ganz grundsätzlichen Symboldekadenzcharakter des Schlosses spricht: dass es auch als Drehort eines Scooter-Musikvideos diente. In “Hardcore fills the Air / The Sound above my Hair” performt H.P. Baxxter erst in der hübschen Fachwerkstadt und am Ende unterm Schloss u.a. mit vier Dudelsackpfeiferinnen in Schottenminiröcken.
Hyper hyper is geiler als Sound above my haire…