Erfurt ist kein Städtchen, sondern sogar eine aktuelle Hauptstadt (des Bundeslandes Thüringen), und schön nicht nur in dem Sinne, in dem das eigentlich fast jede Stadt, außer einer vielleicht, ist.
Zum Beispiel die beiden Kirchen mitten in der Stadt: Der (Marien-) Dom und die Kloster- (Severi-)kirche sind beide katholisch und, was den Stil betrifft, vor allem gotisch (auch wenn der Dom zunächst romanisch begonnen wurde). Aus heutigerer Sicht scheint es nicht gerade naheliegend, mitten in der sowieso nicht turmarmen Stadt zwei doch recht ähnliche Kirchen so nah nebeneinander zu bauen. Andererseits bietet der Domhügel gerade darum ein einprägsames Bild, vielleicht sogar ein in Europa einzigartiges Ensemble.
Zumindest einprägsam ist auch der Riesenplatz zu Füßen der beiden Kirchen. Seine unterschiedliche Pflasterung aus Basaltsteinen bzw. Beton zeigt, dass der Platz früher kleiner war. Der eine, betongepflasterte Teil war bis zur Zerstörung 1813 (als Russen, Preußen und Österreicher die von napoleonischen Truppen auf dem Rückzug aus Russland besetzte Stadt beschossen) bebaut.
Auf dem älteren Teil des Platzes steht einer jener Obelisken, die vermutlich in gar keiner Epoche für besonders tolle Kunstwerke gehalten wurden. Er erinnert in großen Worten und servilem Tonfall (“…ZU EWIGEM GEDÆCHTNISS AUS TIEFST GEBÜHRENDER DANKBARKEIT DER HÖCHST GNÆDIGEN HULDREICHSTEN GEGENWART SEINER CHURFÜRSTLICHEN GNADEN…”) an einen Fürsten mit so vielen Titeln, dass sie auf dem begrenzten Raum nicht alle aufgezählt werden konnten, sondern mit “etc. etc.” abgekürzt wurden: an den Mainzer Erzbischof Friedrich Karl Joseph von Erthal, zu dessen Territorium Erfurt als Exklave gehörte. Am interessantesten daran ist, dass der Obelisk anlässlich seines Besuchs anno 1777 errichtet wurde – gut ein Vierteljahrhundert, bevor in Folge der französischen Revolution solche Erzbischöfe als Landesherren für immer abgeschafft wurden. Zumindest insofern also, als letzter seiner Art, bleibt dieser Friedrich Karl Joseph tatsächlich in relativ ewigem Gedächtnis.
Im Hintergrund oberhalb des Riesenplatzes in Erfurts Mitte ist eine Zitadelle zu sehen. Erbaut wurde sie von Italienern im französischen Vauban-Festungs-Stil – weniger zum Schutz der Stadt als zum Schutz der Mainzer Erzbischöfe vor eventuellem Freiheitswillen ihrer Untertanen. Später wurde die Zitadelle dann von den Preußen so richtig ausgebaut. Insofern gibt es in Erfurt also viel Interessantes und/ oder Schönes anzugucken.
Und dennoch lohnt es, vom Hauptbahnhof erstmal nicht stadteinwärts (zur “Willy Brandt ans Fenster”-Seite) zu gehen, sondern zur anderen Seite. Dort wartet in wenigen Minuten zu Fuß etwas völlig anderes, das aber leider auch zur deutschen Geschichte gehört: der Erinnerungsort Topf & Söhne. Wer “Muffel” für ein interessantes Tier oder einen neckischen Namen für weniger fröhliche Menschen hält, erfährt noch von einer (furchtbaren) weiteren Bedeutung.
Topf & Söhne war ein im 19. Jahrhundert rasant zur Weltfirma aufgestiegenes Maschinenbauunternehmen, das Anfang des 20. Jahrhunderts mit die ersten Krematorien in Deutschland baute.
Nach der Machtübernahme der Nazis entdeckte es einen, heute würde man vielleicht sagen: Markt für sich, den man aus dem Fenster der Abteilung Spezialofenbau sehen konnte. Den Ettersberg, auf dem das Konzentrationslager Weimar-Buchenwald errichtet wurde, kann aus dem Fenster noch immer sehen.
Die Leichen der dort getöteten Menschen wollten die Nazis, anstatt im städtischen Krematorium Weimars pro Einäscherung 20 Reichsmark zu entrichten, lieber in einer eigenen Anlage verbrennen. Topf & Söhne baute sie.
In durchaus marktwirtschaftlichem Wettbewerb mit Mitbewerbern, angetrieben vom Wunsch nach Rendite (obwohl der sich nicht besonders erfüllte, da auch die Zahlungs-Moral der SS schlecht war) und auch von einem Abteilungsleiter, der sich offenbar darüber geärgert hatte, dass er anders als andere Abteilungsleiter keine Prokura bekam, erkannte die Firma den, heute würde man vielleicht sagen: steigenden “Bedarf” an Verbrennungsöfen bei den Nazis. Und sozusagen serviceorientiert, bediente sie ihn. Sie konstruierte nicht nur Doppelmuffel-, sondern Drei-, Fünf- und sogar Achtmuffelöfen für das Vernichtungslager in Auschwitz und baute sie dort auch in monatelanger Arbeit auf (und war überdies mit mobilen Öfen behilflich) – das zeichnet die 2005 vom Jüdischen Museum in Berlin konzipierte, seit 2011 am Originalschauplatz angesiedelte Ausstellung derart nach, dass man sich nach jeder Vitrine wünscht, sie sei nun zuende. Aber sie geht immer noch weiter, denn die von Topf & Söhne und den Nachfolgebetrieben in DDR und BRD hinterlassene Aktenlage war ausgezeichnet.
Muffel in diesem Sinne sind übrigens Verbrennungskammern.