Wenn aus einigen Blickwinkeln hinter Wittenberge im Hintergrund der Schriftzug “Veritas” herausragt, hängt das weniger damit zusammen, dass sich in dem Backstein-Gebäudekomplex, über dem die Buchstaben montiert sind, unter anderem eine Schule befindet und humanistisch die Wahrheit hochhält (auch wenn sie das gewiss tut …).
Sondern mit Nähmaschinen hat es zu tun. Die Elbstadt in Brandenburg nannte sich lange “Stadt der Nähmaschinen”, da dort fast ein Jahrhundert lang über 3.000 Arbeiterinnen und Arbeiter über sieben Millionen solcher Geräte herstellten.
Viel übrig ist von der einst “modernsten Nähmaschinenfabrik der Welt” nicht mehr. Wittenberge ist eine Ex-Industriestadt und macht auch kein Geheimnis daraus. Wo auch für Menschen, die fast niemals nähen, Interessantes über die ehemaligen Industrie erfahren können: im Stadtmuseum “Alte Burg” sowie im Uhrenturm unmittelbar an der ehemaligen Fabrik.
Wer im Museum von einem der zeitgenössischen Telefone den schnurgebundenenen Hörer abnimmt, bekommt von Stimmen einstiger Arbeiterinnen und Arbeiter lebhaft aus der bis in die frühen 1990er Jahre reichenden Vergangenheit erzählt– zum Beispiel, dass der VEB Nähmaschinenwerk Wittenberge außer Maschinen seiner eigenen Marke “Veritas” auch gerne welche ohne Herkunftsnachweise produzierte, auf die westdeutsche Versandhändler dann ihre eigenen Markennamen draufkleben konnten. Und davon, dass sich die Hoffnung, die langjährigen Geschäftspartner würden die von ihnen geschätzten Maschinen auch zu neuen marktwirtschaftlichen Bedingungen einkaufen, nach 1989 nicht erfüllte. Wozu natürlich gesagt werden muss, dass im Zuge der weitergegangenen Globalisierung längst praktisch keine Nähmaschinen mehr in Europa hergestellt werden (und alte westdeutsche Veritas-Kunden wie Quelle und Neckermann ebenfalls vom Markt verschwunden sind …).
In Wittenberge verschwanden nach 1989 jedenfalls rund 8.000 Industriearbeitsplätze – und noch mehr Einwohner. Eine Bevölkerungskurve in der Broschüre “Wittenberge – Stadtbild der Gegensätze” zeigt an, wie die Einwohnerzahl des über Jahrhunderte sehr kleinen Ortes erst Mitte des 19. Jahrhunderts 3.000 erreichte und anschließend stetig anstieg – wie eigentlich überall in Europa. Ab Ende des 20. Jahrhundert jedoch schrumpfte die Wittenberger Bevölkerung wieder bis fast zur Hälfte ihres Höchststands. Ob die DDR tatsächlich einmal ernsthaft und nachhaltig “zehntstärkste Industrienation der Welt” war, wie sie behauptete, darüber lässt sich lange streiten. Zumindest war Wittenberge eine der Städte, die für diesen Status sprachen. Was natürlich längst nicht nur Vorteile hatte, sondern auch schmutzig, gesundheits- und umweltschädlich stank, wie es die ebenfalls dort produzierte Zellwolle wohl getan hat.
Es dauerte, bis das Stadtbild sich erholte. Inzwischen hat es das: Aus den markant an der Elbe aufragenden Ölspeichern gleich hinter der breiten Promenade an der breiten Elbe, dem wohl imposantesten der alten Industriebauten in backsteinroter Ziegeloptik, wurde ein Hotelkomplex mit “Indoor-Tauchturm”, Kletterturm und Schau-Brauerei. Was in dieser “Ölmühle” einst gelagert wurde, war kein Erdöl; das gab es niemals in und um Wittenberge. Vielmehr wurden Raps-, Lein- und Rübenöle verarbeitet, weniger zu Speisezwecken, sondern als “Leucht- und Schmiermittel”. Solche Öle waren der Stoff, durch den Wittenberges Aufstieg begann. Das lässt sich gleich vorm gewaligen Bahnhofsgebäude erfahren.
Da tritt man gleich auf den großen Salomon-Herz-Platz. Der namensgebende jüdische Kaufmann hatte im 19. Jahrhundert die Stadt an der Elbe als idealen Fabrikstandort erkannt. In den 1830er Jahren, als noch Flüsse als die wichtigsten Verkehrsadern fungierten, sorgte er für den Ausbau des Elbhafens. Als im folgenden Jahrzehnt geradezu mit Internet-Geschwindigkeit Eisenbahnen zum wichtigsten Verkehrsmittel avancierten, sorgte Herz als Teilhaber der (damals noch privaten) Eisenbahngesellschaften dafür, dass die Verbindung zwischen den beiden bereits damals größten deutschen Städten über Wittenberge führte. In der Bahn zwischen Hamburg und Berlin soll Wittenberges Bürgermeister anno 1903 dann auch dem Vertreter des US-amerikanischen Nähmaschinen-Herstellers Singer begegnet sein, als dieser gerade einen Standort für eine deutsche Fabrik suchte, und ihn von seiner Stadt überzeugt haben.
Aus dem Singer-Werk wurde nach dem Zweiten Weltkrieg dann ein volkseigener Betrieb, wofür das US-amerikanische Unternehmen übrigens entschädigt wurde.
Weil Wittenberge sich erst im 19. und 20. Jahrhundert zur wirklichen Stadt entwickelt hatte, gibt es nicht sehr viel wirklich Altes zu sehen. Der Name “Alte Burg” fürs Museum trügt: Da handelt es sich um ein schlichtes, in der Backsteinstadt freilich seltenes Fachwerkhaus. Es entstand als neuer Sitz der einflussreichsten Adelssippe der Gegend, nachdem Wittenberge im 30-jährigen Krieg vermutlich komplett ausgestorben war.
Diese Familie, die mehr oder weniger sämtliche Orte der Region (der Prignitz) gegründet hatte und auch Wittenberges ältesten Bau, das Steintor, errichten ließ, trug und trägt den kuriosen Namen Gans Edle Herren. Anders als die meisten anderen Adeligen strebte die Familie wohl niemals oder nicht sehr lange nach einem eigenen selbständigen Herrschaftsbereich. Was einst unheroisch erschienen sein mag, erscheint aus heutiger Sicht schön friedlich; schließlich ware Herrschaftsansprüche fast immer mit Krieg verbunden. Die Gans Edlen Herren begnügten sich seit dem 14. Jahrhundert damit, die brandenburgische Erbmarschallwürde sowie das seltene Recht, ihren seltenen Namen führen zu dürfen, innezuhaben. Je nach dem Ort der Prignitz, an dem Mitglieder ansässig waren, konnte der Name etwas vereinfacht auch “Gänse zu Perleberg” und “Gänse zu Putlitz” lauten. Und weil das auch noch kein sehr einfacher Name ist, wenn man ihn öfter verwendet, wurde der Vertreter der Familie, der zwischenzeitig (als Schriftsteller sowie als Hoftheaterintendant zwischen Schwerin und Karlsruhe) am allerbekanntesten wurde, noch einfacher Gustav Gans genannt …
So schlicht die “Alte Burg” ist, um so interessanter sind Bauten aus allen Stilepochen der Industriezeit: von Arbeiter-Reihenhäusern im “Manchesterstil” übers historistische Rathaus der späten Kaiserzeit bis zum Kultur- und Festspielhaus der frühen DDR-Ära. Von einem “Stadtbild der Gegensätze” lässt sich also wirklich sprechen.
Das allergewaltigste Bauwerk ist der Bahnhof, der größte zwischen Berlin und Hamburg (aus der Zeit, in der Bahnhöfe nicht nur Shoppingzentren waren). In seiner Nähe, im Lokschuppen, wartet eine weitere Ausstellung, die zwar auch historische Bedeutung besitzt, erfreulicherweise aber nicht nur solche. Vielmehr betreibt die Deutsche Bahn in Wittenberge ein Ausbesserungswerk, das bereits tief aus dem 19. Jahrhundert stammt, nun aber eigenen Angaben “nun zu den modernsten in Europa gehört” – und die Industriegeschichte auf sogar vergleichsweise umweltfreundliche Weise noch ein bisschen in die Gegenwart verlängert.
Eine Wiederentdeckung, zum Beispiel auf der Reise zwischen Berlin und Hamburg, ist Wittenberge der späten 2010er Jahre also durchaus wert.
Dieser Text entstand mit freundlicher Unterstützung der TMB Tourismus-Marketing Brandenburg GmbH.