Wenn Städtchen in und rund um Hessen, wo die Brüder Grimm aufwuchsen und ihre Märchen sammelten, sich als Originalschauplatz eines dieser Märchen in Szene setzen, wirkt es oft wie eine rückwärts gewandte Touristenanlockungs- und Prospekte-Illustrations-Aktion mit zubuchbaren Prominenten.
Das dürfte im Allgemeinen auch leidlich funktionieren. Schließlich sind die Märchen der Grimms das global wohl verbreiteteste deutsche Buch (falls man “Das Kapital” ihres Zeitgenossen Karl Marx nicht doch wieder höher einschätzt). Dass so eine Märchen-Herleitung aber auch härtere Hintergründe haben und bewusst machen kann, zeigt das Spessartmuseum im bayerischen Lohr. Es stellt die Theorie des [mit mir nicht verwandten] Apothekers Karl-Heinz Bartels aus den 1980er Jahren, warum “Schneewittchen eine Lohrerin” gewesen sein soll, ausführlich dar.
Das recht disneylandhaft aussehende, zumindest im Kern aber aus dem 14. Jahrhundert stammende Lohrer Schloss (das heute das Museum beherbergt), reicht als Baustein natürlich nicht aus. Schlösser gibt es in Deutschland schließlich wie Sand am Meer. Als Erklärung für den sprechenden Spiegel der bösen Königin bietet diese Theorie die Kurmainzische Spiegelmanufaktur an, die sich von 1698 bis 1806 in Lohr befand. Einzelne Erzeugnisse wie dieses hätten im übertragenen Sinn gesprochen “durch ihre Sinnsprüche auf der Rahmung. ‘Elle brille à la lumière’ (sinngemäß: sie ist so schön!) ist Beispiel für einen solchen Sinnspruch”.
Bei aller Betonung des Glamours der kunstvoll gefertigten Spiegel, von denen das Museum eine Menge zeigt, und bei allem Industriestolz auf die seinerzeit erfolgreiche Anverwandlung der “französischen Spitzentechnologie des Spiegelgusses” (der dadurch gesteigert wird, dass am einstigen Sitz dieser Manufaktur, am Ufer das Bachs namens Lohr, noch immer eine exportstarke traditionsreiche Firma sitzt, Bosch-Rexroth) verschweigt das Museum nicht, dass die Arbeit in dieser Manufaktur keine Freude machte, sondern krank: “Neben den allgemeinen körperlichen Belastungen zeigt sich bei den meisten Arbeitern frühzeitig gesundheitsschädliche Auswirkungen der Quecksilberverwendung beim Belegen der Glastafeln. Dazu gehörten u.a. Haar- und Zahnausfall, Schwindel, starkes Zittern, Husten, ungesunde Gesichtsfarbe und Magenschmerzen”, informiert ein Faltblatt.
Wobei schlechte Arbeitsbedingungen im Spessart nicht selten waren, sondern etwa in Bergwerken, Steinbrüchen und Glashütten verbreitet. “Die einfachen Menschen im Spessart waren kleinwüchsig, schon allein wegen der sprichwörtlichen Not im Spessart”, heißt es in der Theorie weiter, womit dann auch die tragenden Märchen-Nebenrollen herleitbar erscheinen: “Als Bergleute … wurden besonders kleinwüchsige Männer, teilweise auch Kinder benötigt, da nur sie in den niedrigen Stollen arbeiten konnten”.
Was diese Not im Spessart sprichwörtlich gemacht hat, würdigt das Museum ebenfalls: Der Bericht “Die Noth im Spessart – Eine medicinisch-geographisch-historische Skizze” des preußischen Arztes und Oppositionspolitikers Rudolf Virchow erschien 1852. Wie fast alles, was erhalten blieb, ist er heute im Internet abrufbar. Der Bericht entstand zwar gut 110 Jahre nach der von Bartels angenommenen “Schneewittchen”-Spielzeit (und 40 Jahre nach der Veröffentlichung des Grimmschen Märchens). Mit Passagen wie:
“Eigenthümlich und vielleicht nicht ohne besonderen Zusammenhang ist es, dass sich an verschiedenen Punkten im Umfange des Spessarts sehr vollkommene Zwerge finden, und es dürfte nicht zufällig sein, dass in den Spessart – Sagen die Zwerge häufig erwähnt werden” (S. 25)
passt er aber gut dazu. Sogar entsprechende Hütten beschrieb Virchow (S. 41):
“Ueber eine ziemlich hohe Stiege kletterte man zu dem sonst einstöckigen Hause hinauf, das einen ganz kleinen Vorplatz mit Küche, ein einziges, enges und niedriges Zimmerchen und ein dunkles, feuchtes und kaltes Kämmerlein umschloss. Die Wände des letzteren waren fast ganz nass und auch die des Zimmers von Rauch und schwärzlichen Schimmellagen überdeckt.”
Dass in einem Mittelgebirge wie dem Spessart an Bergen kein Mangel herrscht, versteht sich. Folgende sieben haben die Lohrer im Rahmen eines Wanderwegs benannt: Hammersbuch (511 Meter), Steckenlaubshöhe (542 m), Pfirschhöhe (502 m), Gaulskopf (519 m), Eichenberg (544 m), Erkelshöhe (517 m) und Hirschberg (535 m). Dieser Weg könnte das Schneewittchen-Vorbild, das übrigens Maria Sophia Margarethe Catharina, Freifräulein von Erthal geheißen haben soll, ins Territorium der Hanauer Grafen geführt haben, wo die Staatsgewalt der Kurmainzer Jäger (die ihm ja nachstellen sollten) nicht mehr galt. Als Söhne eines dort, nachdem die Grafschaft hessisch (-kasselisch) geworden war, ansässigen Amtmanns, sind die Brüder Grimm in Hanau geboren worden.
Bloß eine Königin hatten sie nicht in Lohr. Seit dem Aussterben der Grafen von Rieneck, die im Schloss ursprünglich residiert hatten, gab es nicht einmal mehr niederrangige Regenten in der Stadt am Main, weil sie eben zum Mainzer Kurfürsten- und Erzbistum gehörte. Wenn man allerdings im Spessartmuseum etwas nachvollzogen hat, wie streng seinerzeit den Untertanen verboten war, sich im Wald, in dem die Obrigkeit jagte, auch nur aufzuhalten (dass die Kurmainzer Forstverordnung die Wälder als “bürgerfreie Zone, in der nur Bedienstete des Eigentümers etwas zu suchen hatten”, definierte, steht in einem weiteren Faltblatt), und wie Jäger etwa fürs “Erlegen” von Wilderern Belohnungen erhielten, kann man aber schon glauben, dass die Einheimischen auch die im Schloss residierende Gattin eines Oberamtmanns für eine Art Königin halten mochten.
Relativ rund ist die Märchen-Geschichte also, und mit gewissen Süffigkeit, die andererseits gestattet, zufrieden darauf hinzuweisen, dass sie 1995 unter der Überschrift ” A forest filled with myths” auch in der New York Times sowie in chinsesischen Zeitungen gestanden hat, verstehen die Lohrer sie auch zu erzählen. Was natürlich nicht ausschließt, dass auch andere Ortschaften in und um Hessen sich als “Schneewittchen”-Schauplatz sehen – nur z.B. mit ähnlichen Not-Argumenten, bloß ohne Glamour-Spiegel das hessische Bad Wildungen oder auch niedersächsische Alfeld. Aber das besitzt inzwischen ja offiziell anerkanntes Weltkulturerbe und braucht vielleicht gar kein Grimm-Märchen mehr.