Der Gratis-Stadtplan der rheinland-pfälzischen Stadt Diez hält eine Überraschung bereit, zumindest für Besucher, die schon das schön überm Ort thronende Grafenschloss gesehen haben und durch den Plan auf die Idee kommen, sie könnten auf dem Weg durch den sogar noch etwas höher gelegenen Stadtwald und die Lindenallee (Google Maps bietet die gleiche Überraschung…) gleich auch noch das zweite Schloss, Oranienstein, anschauen. Dabei liefe, wer diesem Weg unbedingt folgen wollen würde, sogar Gefahr, erschossen zu werden.
Denn das zweite Schloss befindet sich mitten auf einem Kasernengelände der Bundeswehr und ist weiträumig eingezäunt. Den Eingang, an dem Schlossbesucher warten müssen, um zur Besichtigung abgeholt zu werden, zu fotografieren, ist sogar streng verboten. Eines der anderen Schilder fotografiert zu haben, die Unbefugten den Zutritt ebenfalls verbieten, schadet der allgemeinen Sicherheit hoffentlich nicht.
Immerhin hat die militärische Nutzung des Schlosses eine insgesamt wohl längst längere Tradition als die repräsentativ-fürstliche. Zwei Jahre, nachdem die Preußen den Staat Nassau anno 1866 annektiert hatten, wurde aus dem Schloss eine Kadettenanstalt. In der Nazizeit beherbergte es eine “Napola”, vorher (bis ins Jahr 1929) und nachher französische Besatzungstruppen. Wie diese nach dem Zweiten Weltkrieg im Barockschloss gehaust haben sollen, und dass Rheinland-Pfalz nach ihrem Abzug froh gewesen sei, es an den damaligen Verteidigungsminister Franz-Josef Strauß für die Bundeswehr verkaufen zu können, zählt zu den Dingen, die während einer Schlossführung erzählt werden.
Natürlich ist der Umweg ums Kasernengelände herum nicht dramatisch, bloß an heißen oder nassen Tagen für eine Haupt-Zielgruppe des Schlosses etwas ärgerlich. Oranienstein richtet sich besonders an junge sowie an betagte Besucherinnen: an Mädchen, die noch auf Prinzessinnen stehen, und ältere Damen, die sich in der Yellowpress und im öffentlich-rechtlichen Fernsehen gern über sog. Royals informieren. “Als eines der Stammschlösser des niederländischen Königshauses” enthält es ein kleines Museum zu diesem Thema. Zwar waren die nassauischen Fürstentümchen, bevor sie im 19. Jahrhundert zu einem etwas größeren vereint wurden (das aber nicht lange Bestand hatte), ziemlich zersplittert, so dass sich heute viele Residenzstädtchen der Region auf die Vorgeschichte der niederländischen Könige berufen und (gern mit der Nationalhymnen-Zeile “Wilhelmus van Nassouwe ben ik, van Duitsen bloed”) um niederländische Touristen auf der Oranjeroute werben können. Doch war die Diezer Linie tatsächlich diejenige, die den Titel Oranien ererbte und im verwickelten Stammbaum der heutigen Monarchen noch heute eine Rolle spielt. Ja, Royals-Fans könnten sogar wissen, dass “Graf von Diez” weiterhin zur Titelsammlung aktueller niederländischer Könige zählt. Für Diez allerdings bedeutete dieses Erbe im 18. Jahrhundert, dass die damaligen nassauischen Fürsten (die sowieso lieber als Erbstatthalter in den reicheren Niederlanden weilten als in ihren deutschen Besitzungen) ihren deutschen Sitz ins größere Dillenburg verlagerten. Bloß Schlösser hatten sie halt auch in Diez, und zeitweise dienten sie als Sitz von Fürstenwitwen und Prinzessinnen.
Lohnt es sich nun, Schloss Oranienstein anzuschauen? Wenn man kein Royals-Fan ist : Nö, nicht unbedingt. Es ist eine weitere der keineswegs besonders raren deutschen Versailles-Nachahmungen. Deutlich sehenswerter und außerdem leichter zugänglich ist das Grafenschloss das auf seinem Porphyrfelsen über dem Ortszentrum und der Lahn.
Davor steht übrigens der Friso-Brunnen, der zu Ehren eines vor drei Jahrhunderten jung ertrunkenen Prinzen errichtet und benannt wurde (rhein-zeitung.de). Und den Schlagzeilen um den kürzlich ebenfalls jung verunglückten gleichnamigen Prinzen konnten ja auch Internetnutzer, die sich eigentlich nicht für Gegenwarts-Royals interessieren, kaum entkommen…
Im Diezer Grafenschloss hatten schon seit dem 11. Jahrhundert lokale Fürsten gesessen, seit dem 14. waren es die Nassauer. Beim Blick hinauf von der Lahn oder hinab lässt sich noch gut erahnen, wie Diez dadurch Reichtum erlangte, dass es den Fluss zum Rhein hin kontrollierte und die von dort kommenden Schiffe zwang, ihre Ladung zu löschen (worunter vor allem das lahnaufwärts nahe gelegene Limburg litt, in das bis in die Napoleonszeit hinein die Schiffe nicht mehr fuhren).
Und auch dieses Schloss hat eine bewegte Nutzungsgeschichte. Im Barock, als auch Fürsten kleiner Territorien statt burgartiger, im Kriegsfalle sowieso kaum zu verteidigender Sitze lieber Schlösser im Sonnenkönigsstil wollten, bauten sich die Diezer Herrscher das neue Schloss. Das alte diente nach etwa hundertjährigem Leerstand ab 1785 als ausbruchssicheres Zuchthaus, dessen Insassen Lahnmarmor zu bearbeiten hatten. Der Broschüre “Diez – Oranierstadt an der Lahn” zufolge sollen die ausbruchssicheren Zuchthaus-Plätze zunächst sogar begehrt gewesen sein, da Diez damals nicht mehr reich war und es im Zuchthaus regelmäßige Mahlzeiten zumindest gegeben hat.
Das Begehrtheits-Problem wurde dann aber gelöst. Zu den Inhalten des Museums, das das Schlossareal heute außer einer Jugendherberge beherbergt, gehören auch die Eisenkugeln, mit denen die Insassen an den Füßen gefesselt wurden (und die heute am ehesten noch von den Daltons aus “Lucky Luke”-Comics bekannt sind).