Der schönste Weg in eine Stadt führt nicht von der Autobahn durch Gewerbegebiets-Kreisverkehre, und auch nur selten vom Bahnhof her, sondern durch Natur. Am besten steigt man von einem Berg herab – so wie Heinrich Heine in der “Harzreise” seinen Weg nach Ilsenburg beschrieben hat.
Auf dem Brocken ist der Heinrich-Heine-Weg ausführlich ausgeschildert, und das ist auch gut so, da auf diesem höchsten norddeutschen Berg der offiziellen Nationalparksbroschüre (PDF) zufolge 306 Nebeltage im Jahr herrschen. Das heißt zwar nicht, dass es an allen diesen Tagen rund um die Uhr nebelig ist.
Doch während sich bei meinem Aufstieg zwar noch die Skisprungschanze auf dem Wurmberg bei Braunlage sehen ließ, lag die Sichtweite, sobald ich oben war, plötzlich bei höchstens zehn Metern.
“Der Brocken ist ein Deutscher. Mit deutscher Gründlichkeit zeigt er uns, klar und deutlich, wie ein Riesenpanorama, die vielen hundert Städte, Städtchen und Dörfer…”,
schrieb Heine. Weil bei ihm oft unklar ist, und ihm selbst schon war, wo die Ironie aufhört und der Himmel anfängt, kann das natürlich auch ironisch auf die Klarheit der gründlichen Deutschen (oder dann mittelbar gar auch auf die Kurzsichtigkeit von Ironie…) bezogen gewesen sein.
Wieauchimmer, mir zeigte der Brocken kaum mehr den ältesten Fernsehturm vermutlich der Welt, der auf ihm selbst steht. Dort ist er ab November 1935 geplant und gebaut worden, nachdem die Deutsche Reichspost zuvor mit einem fahrbaren Sender experimentiert hatte und ihr wohl auch Übertragungen in eine öffentliche Fernsehstube im Rathaus der nächstgelegenen Ortschaft Schierke gelungen waren (fernsehen.bplaced.net). Der Turm hätte dem Start eines weiter verbreiteten Fernsehprogramms nach der Funkausstellung von 1939 dienen sollen – wenn nicht ein anderes Projekt der Nazis leider dazwischen gekommen wäre, der Zweite Weltkrieg.
Besonders alt sind die wenigen Bauten oben auf dem Brocken, auch deshalb, nicht. Das “Brockenhaus”, in dem Heine in den 1820er Jahren übernachtet und das die Grafen von Stolberg-Wernigerode wohl anno 1800 als Gasthof errichtet hatten, ist 1859 abgebrannt. Das heutige Hotel ist, u.a. eigenen Angaben zufolge, aus dem Fernsehturm entstanden, der einen Bombenangriff am Ende des Zweiten Weltkriegs überstanden hat. Beim Brocken-Museum wiederum handelt es sich um den Bau, den die Stasi noch in den 1980er Jahren als nach Westen gerichtete Abhörzentrale errichtet hatte. Heute zeigt es außer der damaligen Abhör-Ausstattung u.v.a. ein paar Relikte des alten TV-Betriebs, etwa das angeblich “1. Fernsehkabel der Welt”.
Ein Vorteil der DDR-Ära: Die Betonplatten, die den oberen Teil des Heine-Wegs bilden, lassen sich auch bei dichtem Nebel gut erkennen. Weiter unten, wo sich der Nebel lichtet, kommt der Star des “Harzreise”-Kapitels zum Vorschein: die Ilse, das von Heine so gern personifizierte Flüsschen.
Fast wie zu seinen Zeiten lassen die Granitblöcke, die einen auf dem Weg vom Brocken hinab begleiten, ihr klares Trinkwasser fantastisch rauschen, springen und zu Wasserfällen fallen, während sich am Rande andere Brockengranit-Brocken mit den Wurzeln gewaltiger Bäume arrangieren. Unten am Ortseingang, an der Prinzess-Ilse-Quelle, lässt sich auch bequemer (und gratis) aus der definitiv klaren Ilse trinken.
Ilsenburg selbst kommt bei Heine, weil schon der Weg dorthin so schön war, kaum vor. Das teichreiche Fachwerkstädtchen enthält – Überraschung! – ein Schloss, von dem aus die schon genannten Grafen von Stolberg-Wernigerode nach dem Dreißigjährigen Krieg ein paar Jahrzehnte lang ihr Territorium regiert hatten. Das umfasste außer dem Brocken die genannten Ortschaften, also das nahe Wernigerode und das etwas entferntere Stolberg, allerdings stand es teils unter sächsischer, teils unter preußischer Oberherrschaft, sodass die Grafen gar nicht richtig selbstständig (oder zumindest nicht alle dieser Meinung) waren – das Heilige Römische Reich Dt. Nation war ein enorm kompliziertes Gebilde. Eine Leistung, die Ilsenburg heute für die alten Grafen beziehungsweise für sich reklamiert: die vom gräflichen Jäger- und Forstmeister Hans Dietrich von Zanthier anno 1770 gegründete erste “Forstakademie” Deutschlands. Die Traditionen der Forstwissenschaft, in deren Rahmen etwa mehrfach das heute so populäre Konzept der Nachhaltigkeit ersonnen worden war, stehen eben hoch im Kurs.
Das Schloss ist zuletzt im 19. Jahrhundert nach dem Zeitgeschmack nochmals verändert worden und steht neben einem Kloster aus dem 11. Jahrhundert, das nach der Reformation den weltlichen Herrschern zugefallen war. Heute ist es Teil der in Sachsen-Anhalt mit viel Werbeschilder- und Prospekte-Power beworbenen, bloß online etwas öden “Straße der Romanik”, allerdings seltener geöffnet als draußen dransteht. Insofern habe ich die Attraktionen drinnen gar nicht gesehen.
Von außen macht es einen wirklich romanischen Eindruck… Die nächste Sehenswürdigkeit steht nur wenige 100 Meter entfernt: Die Marienkirche sieht nur vom kleinen Schlosspark aus unspektakulär historistisch ist. An die Anbauten aus dem 19. Jahrhundert schließt sich ein kaum jüngerer Bau (aus dem 12. Jahrhundert) an, der ebenfalls alte Ausstattung enthält. Wenn dann noch ein netter Kirchenmitarbeiter darauf wartet zu erzählen, wie etwa das Altarkreuz aus der Klosterkirche gerettet wurde, nachdem die Stasi diese in Besitz genommen hatte, gewinnt auch die Ilsenburger Kirchengeschichte an Dramatik.
Hinter der Kirche glänzt, sofern die Sonne scheint, ein Friedhof: Schmiedeeiserne Gitter inklusive abschließbarer Tore um die Gräber zeugen von der Ilsenburger Eisenhütten-Kunstguss-Tradition, die einst (die Top-Attraktion, wenn Ilsenburger aus der Stadtgeschichte erzählen…) den russischen Zaren Peter den Großen auf seiner Europareise angezogen haben soll. In Prachtgräbern ruhen u.a. die noch als evangelische Kirchenlieddichterin bekannte Eleonore Fürstin Reuß, eine geborene Wernigeroder Gräfin, die einen Herrscher aus der Reußer Sippe geheiratet hatte (in deren Herrschaftsgebiet es noch komplexer zuging – bloß nicht, was die Vornamen betrifft, siehe: “Sie hießen alle immer Heinrich”), und Eduard Schott. In dessen Oberhütteninspektoren-Ära hatte die Ilsenburger Eisenhütte auf den Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts erst recht geglänzt.
Leider wurde in der Fürst-Stolberg-Hütte, eigentlich einer weiteren Touristenattraktion, laut stadt-ilsenburg.de kürzlich “aufgrund eines Insolvenzverfahrens … die Produktion eingestellt”.
Ilsenburgs relativ größte Sehenswürdigkeit bildet aber (hier passt das Füllwort wirklich mal:) natürlich die Natur. Das am Harzrand gelegene Nationalparkhaus muss man sich selbstverständlich als Nationalpark-Haus denken, nicht als National-Parkhaus. Dass zu wenig Autoverkehr herrscht, lässt sich Ilsenburg sicher nicht vorwerfen, aber entspannt ist die Parkplatzsituation.