Die Senefelder Straße in Berlin-Prenzlauer Berg geht von der Stargarder Straße ab und kreuzt die Hiddenseer Straße. Während die Stargarder grob in Richtung Stargard führt (zur inzwischen polnischen Stadt, die anders als die meisten früher deutschen Städte immer noch ihren alten Namen trägt …), und die Hiddenseer zwar nicht zur Ostsee, aber klar ist, dass es um die Insel geht, führt kein Weg nach Senefeld. Schon weil es so einen Ort vermutlich niemals gab.
Namensgeber der Straße war ein Mensch, der dummerweise zurzeit ziemlich vergessen ist, außer den Orten, an denen er gewirkt hat. Dort gilt Alois Senefelder, der Erfinder der Lithographie, sogar als “zweiter Gutenberg”.
In Solnhofen im fränkischen Altmühltal zum Beispiel steht direkt vorm lokalen Döner-Imbiss ein Senefelder-Denkmal, das schon dadurch von Senefelders einstiger Weltgeltung zeugt, dass es 1845 in Paris geschaffen worden war. Erst als die Firma des Lithographen Lemercier aufgelöst wurde, wurde es nach Deutschland verkauft und 1904 in Solnhofen aufgestellt (damals an der lokalen Friedenlinde, noch nicht am Döner).
Im 19. Jahrhundert hatte Solnhofen seine größte Zeit, wovon das Museum mit dem leicht irreführenden Namen Bürgermeister-Müller-Museum kündet. Der Lithographie widmet es sich dennoch nur am Rande, und das mit Recht. Denn der intensive Abbau des für lithographische Zwecke am besten geeigneten, extrem dichten und feinkörnigen Kalkgesteins, das um Solnhofen herum so oft vorkam (und -kommt) wie nirgends sonst, bescherte dem Ort noch viiel größere Sensationen.
Im abermillionenjahrealten Gestein wimmelt es von Fossilien, wie interessierte Besucher im “Hobbysteinbruch” gut 150 Meter überm Ort für 5 Euro weiterhin ausprobieren können. Und anno 1861 wurde in diesem Gestein eine Dinosaurier-Feder entdeckt. Diese allererste Spur des Archäopteryx-Flugsauriers verbreitete sich so schnell um die Welt, es im 19. Jahrhundert möglich war. Vor allem, weil es just die Zeit war, in der Charles Darwins Thesen erregt diskutiert wurden. Für die das damalige Weltbild revolutionierende Abstammungslehre stellte der missing link zwischen längst ausgestorbenen Dinos und zeitgenössischen Vögeln den schlagendsten Beweis dar. Und eben dank Lithographie konnte seine Abbildung beweiskräftig verbreitet werden – zumal Senefelder selbst auch Stahlfedern erfunden hatte, mit der exakte Zeichnungen zum Beispiel von Dino-Federn möglich waren.
Insofern bildet Solnhofen ein perfektes Beispiel dafür, wie fast alles mit fast allem um oft nur wenige Ecken zusammenhängt, seitdem die Globalisierung läuft – circa 150 Millionen Jahre alten Dinosaurier und Medienentwicklungen der letzten beiden Jahrhunderte, die noch längst nicht abgeschlossen sind. Erst Senefelders Erfindung ermöglichte es, Bilder vergleichsweise unaufwändig zu drucken. Sie initiierte sozusagen die massenhafte Verbreitung von Bildern, deren exponentielle Beschleunigung ganz aktuell als “Iconic Turn” diskutiert wird; darüber habe ich eine kurzen Text für “epd medien” geschrieben.
Das erste vollständig gefundene Archäopteryx-Fossil befindet sich bereits seit den 1860er Jahren im Natural History Museum in London. Später entdeckte weitere Fundstücke sind die Hauptattraktionen des Solnhofener Museums. (Wobei das Museum sein vielleicht allerspektakulärstes Stück, eine versteinerten Flugsaurier-Raubfisch-Kampf, in Folge des neuen Bundes-Kulturgutschutzgesetzes verloren hat).
Insofern kein Wunder, dass die Lithographie, deren Breitenwirkung zwar gewaltig war, die wegen der längst gewohnten Omni- bis Überpräsenz von Bildern aber kaum mehr spektakulär auszustellen ist, im Museum keine große Rolle spielt. “Solnhofen ermöglicht die Welt in Farbe”, steht auf einem Schildchen in einer Vitrine, die der – wiederum von Senefelder initiierten – Chromolithographie gilt. Dazu werden bunte Schokoladen- und Zigarrenverpackungen sowie mit Lithografie-Abziehbildern beklebtes Porzellan gezeigt. Da machen Dinos natürlich mehr her.
Das ist also kein Vorwurf ans Solnhofener Museum, das aus seinen Mitteln das Beste macht und jedenfalls einen Besuch verdient. Generell aber sollten sich heutig spannende Geschichten über Alois Senefelder erzählen lassen, den Sohn eines Münchener Hofschauspielers, der am Ende des 18. Jahrhunderts zunächst als Autor eines Theaterstücks hervortrat, das er dann auch gedruckt sehen wollte, weshalb er Drucker wurde und erste geschäftliche Erfolge in Offenbach mit Notendruck erzielte (nicht von Geldscheinen, sondern von Werken des kurz vorher verstorbenen Mozart, deren Exklusivrechte Senefelder und ein Kompagnon von Mozarts Witwe Constanze gekauft hatten; dazu lässt sich im Stadtmuseum von Offenbach einiges ansehen …) … Und so weiter, da wäre noch allerhand zu erzählen. Senefelders Lebenswerk in einer Gesamtschau unter “Iconic Turn”-Aspekten zu zeigen, könnte für ambitionierte Museen eine lohnende Herausforderung sein.
Was man über Solnhofen sonst noch wissen wollen könnte
Was man über Solnhofen sonst noch wissen wollen könnte, ist auch nicht gerade wenig. Der Ort ist ziemlich alt und leitet sich und seinen Namen vom angelsächsischen Missionar Sola her, der ums Jahr 750 an die Altmühl kam und die Ortschaft später von Karl dem Großen geschenkt bekam. Seit noch deutlich früher, etwa seit 650, standen fünf alte Kirchen, darunter die große Sola-Basilika, an der Stelle, an der seit den 1780er Jahren (als die vorletzte Kirche wegen Baufälligkeit abgerissen wurde) eine schön schlichte, kleine Markgräflerkirche steht. Obwohl das hardcore-katholische Eichstätt in unmittelbarer Nähe liegt, ist sie evangelisch, da Solnhofen seit 1440 zum Herrschaftsgebiet des Kleinstaats Brandenburg-Ansbach gehörte, der dann die Reformation eingeführt hat.
Steinbruchindustrie gibt es immer noch in Solnhofen. Gemeinsam mit dem Zementwerk nebenan würden rund 600 Menschen dort arbeiten, wurde mir im Museum gesagt. Solnhofer Kalkplatten werden für Fensterbretter und Fußböden verwendet, und ein bisschen sogar weiterhin für den seit Erfindung des Offsetdrucks selten gewordenen, aber etwa in Eichstätt noch betriebenen Druck von Kunstwerken.
Eine Stadt ist Solnhofen allerdings nicht, sondern eine Gemeinde. An Selbstbewusstsein mangelt es dort nicht (“In Quizsendungen des Fernsehens gehört Solnhofen zur Allgemeinbildung”, heißt es zurzeit auf museum-solnhofen.de), an anderem schon: “In Solnhofen steht zur Zeit leider kein Hotel und Gasthof für Übernachtungsmöglichkeiten zur Verfügung”, heißt es auf solnhofen.de.
Wer in die Gegend kommt, in der es an der Altmühl und auf den kleinen Bergen darüber auch einfach so schön ist, sollte sich den Ort und sein Museum jedenfalls mal anschauen. Übernachten lässt sich z.B. im benachbarten Dollnstein.
Die Senefelder Straße in Berlin schreibt sich meistens übrigens korrekt “Senefelderstraße” und führt mittelbar (über die Kollwitzstraße, wie sie zwischendurch heißt) zum Senefelderplatz, auf dem ebenfalls ein Senefelder-Denkmal steht.
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Der mindestens dreistöckige, pinkfarbene Bau hinter dem Senefelder-Denkmal in Solnhofen ist ein Döner-Imbiss??
Nein, der Döner-Imbiss befindet sich schräg dahinter. Als ich das Denkmal fotografierte, stand der Wirt (oder ein Kunde) rauchend davor, und ich wollte ihn nicht mitfotografieren. Zum “Beweis” dafür, dass auch der Senefelder wirklich vorm Imbiss steht, muss die verlinkte Adresse in der Gastronomie-Übersicht auf solnhofen.de genügen …
den Döner gibts nicht mehr, der hat aufgehört