Wenn man sich der Lutherstadt Eisleben (Sachsen-Anhalt) von der richtigen Seite nähert, vom Bahnhof kommend am sowjetischen Soldatenfriedhof und deutschen Kriegermahnmal entlang, gelangt man durch einen schönen Park in ein seltsam zeitenthobenes Gründerzeitviertel.
Dort erinnern Denkmale an berühmte “Söhne der Stadt”, etwa Friedrich Koenig, der in London, vereinfacht gesagt, Druckmaschinen mit Dampfmaschinenkraft kombinierte und so im 19. Jahrhundert dem Drucken einen der wichtigsten Fortschritte seit Gutenberg (im 15.) brachte. Das von ihm gegründete Unternehmen besteht immer noch.
Nicht in Eisleben natürlich. Dort steht bloß seine Büste. Hinter der liegt hügelabwärts die Lutherstadt, aus der allerhand Kirchtürme emporragen. Wiederum dahinter zeigen sich die beim Erzabbau in der eigentlichen flachen Gegend wohl schon zu Luthers Zeiten erzeugten Schlackenhalden.
In der Stadt selbst zeigen sich schnell Hinweise darauf, dass Eisleben in der Gegenwart nicht zu den allerblühendsten Städten gehört.
Tatsächlich ging Eisleben auf der Internationalen Bauausstellung im Dessauer Bauhaus 2010, “Weniger ist Zukunft” über den Umbau schrumpfender Städte in Sachsen-Anhalt, bemerkenswert offen mit dem Problem um, dass die denkmalgeschützte Altstadt zuviele für ihre sinkende Einwohnerzahl im Prinzip erhaltenswerte historische Gebäude enthielt. 2005 sollen 25 Prozent der Gebäude in der Altstadt leergestanden haben; durch die weitgehende Stillegung des Bergbaus mit dem Ende der DDR waren über 10.000 Arbeitsplätze verschwunden. “Perforierte Schrumpfung” heißt das entwickelte städtebauliche Gegenmittel. In einem interessanten Interview sagt die Stadtplanungs-Architektin Iris Reuther: “Wir füllen die Lücken ja wieder bzw. verzichten auf Gebäude, um Freiräume zu gewinnen.”
Gut nachvollziehbar aber auch, dass an manchen Eisleber [dieses leicht an Eisbein erinnernde Wort wird wirklich benutzt] Durchfahrtstraßen niemand wohnen möchte, zumal unter den Bedingungen des gesamtdeutschen Motorisierungsgrades. “Eine Gratwanderung zwischen Erhalt und Abriss, sorgfältiger Reparatur und intelligenten Zwischennutzungen” sei wegen des Status als Weltkulturerbestadt notwendig, war dann die Folgerung.
Weltkulturerbe ist Eisleben als “Lutherstadt”. Diesen Zusatztitel erhielt es 1946 zum 400. Todestag des Reformators, nachdem Wittenberg, wo Luther überwiegend gelebt hat, sich schon seit 1922 so nennt. In Eisleben hat Luther, nüchtern betrachtet, nur zwei wichtige Dinge erledigt: Er ist dort geboren und gestorben. Ein halbes Jahr nach der Geburt ist er bereits weggezogen (ins nahe Mansfeld, das seit 1996 die kaum bekannte dritte offizielle “Lutherstadt” ist), wenige Wochen vor seinem Tod ist er wiedergekommen. Allerdings wurde er in Eisleben auch noch getauft, was unter religiösen Aspekten natürlich ebenfalls wichtig ist, und hat sich zwischendurch manchmal dort aufgehalten. Bezeichnend für die Geschichte der Region und des Landes ist der Grund, aus dem er 1546 wiederkam: Das Städtchen gehörte zur Grafschaft Mansfeld, deren Grafen wie viele ihrer Kollegen ihr ohnehin kleines Territorium durch lauter Erbteilungen oft noch kleiner machten. In der Haupstadt Eisleben befanden sich die Stadtschlösser der Grafen von Mansfeld-Vorderort, der von Mansfeld-Mittelort und der von Mansfeld-Hinterort. In den blutigen Kriegen der Lutherzeit, teils Reformationskriege, in der harznahen Gegend oft auch Bauernkriege, standen die Mansfelder Minigrafen und notgedrungen auch deren Untertanen oft auf unterschiedlichen Seiten. Um so einen Streit zu schlichten, kam Luther 1546 in seinen Geburtsort und starb kurz danach.
Damals scheint ihm das Schlichten gelungen zu sein, jedoch nicht besonders nachhaltig. Später trugen die Grafen Titel wie Mansfeld-Vorderort-Friedeburg. Ihr Ländchen kam wegen ihrer Millionen-(Gulden)- Schulden unter Zwangsverwaltung und verlor seine Reichsunmittelbarkeit, also faktische Unabhängigkeit im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation an Sachsen. Die Herren von Mansfeld legten sozusagen eine frühe Form der derzeit auch wieder aktuellen Staatsinsolvenz hin. Ein relativ bekannter von Mansfeld, Ernst mit Vornamen, wurde später im Dreißigjährigen Krieg als Kriegsunternehmer bzw. “Motor der Europäisierung jenes Krieges, an dessen Beendigung er nur bedingt interessiert war”, berühmt, schreibt sein Biograf Walter Krüssmann. Mit der Region um Mansfeld und Eisleben hatte er nichts mehr zu tun.
Viel über die Zeit, in der Eisleben wegen Kupfer- und Silberproduktion in “einem der größten frühindustriellen Gebiete Europas” lag, lässt sich in Luthers Geburthaus erfahren, einem gewaltigen, aus älteren und neuen Bauwerken bestehenden Museum. Es geht etwa um den Bergbau und die Frage, warum Luthers Vater seinen Namen noch “Luder” schrieb; dann geht die Ausstellung etwas unvermittelt ins Geburtshaus über, das eher auf einer Metaebene interessant ist als durch Authentizität: Das eigentliche Geburtshaus wurde 1689 bei einem Stadtbrand zerstört. 1693 wurde stattdessen eine Luthergedenkstätte eröffnet, die als eines der ältesten deutschen Museen gilt und in der Zeit der Preußen (die in Eisleben ab 1815 herrschten) weiter ausgebaut wurde.
Etwas unentschlossen endet die Ausstellung im Luther-Geburtshaus, um demnächst im Sterbehaus weiterzugehen. Das derzeit umgebaute Museum dort soll im September wiedereröffnet werden und hofft auf viele internationale Touristen zumindest zum 500-Jahre-Jubiläum von Luthers Thesenanschlag im Jahr 2017.
Das scheint noch ein weiter Weg zu sein, wär dem eigentlich schon schönen Städtchen aber zu wünschen.