Zu Unterföhrings Wettbewerbsvorteilen gehört seine Telefonvorwahl. Wer unter 089 anruft, denkt, er würde in München anrufen. Dabei ist Unterföhring eine eigenständige Gemeinde im bayerischen Landkreis München. Womöglich hätte die Allianz-Versicherung nicht (laut Wikipedia) 6.000 Arbeitsplätze dort, wenn Anrufer eine fünfstellige Vorwahl wählen müssten.
Für eine Ortschaft mit knapp 11.000 Einwohnern besitzt Unterföhring eine ziemlich unglaubliche Zahl von Arbeitsplätzen und seit März 2016 mit der ProSiebenSat.1 SE sogar den Sitz eines Dax-Unternehmens, also einer der 30 zumindest dem Börsenwert nach größten deutschen Firmen. Der ProSiebenSat.1-Sitz befindet sich in einem richtiggehenden Medienviertel rund um die Medienallee. Dort liegt zum Beispiel auch die Beta-Straße (Beta hieß eine der Firmen im Firmengeflecht des Medienmoguls Leo Kirch …), die nördlich der Medienallee, beim ZDF-Landesstudio Bayern, zur ZDF-Straße wird.
Weiter westlich trennt die Medienallee die nach 1950-erJahre-Fernsehstudios benannte Rivastraße von der Straße, die in einer hübschen Reminiszenz Gutenberg- genannt wurde. Johannes Gutenberg ist allerdings wohl niemals in Unterföhring gewesen. Dafür sind’s in der Gegenwart überdies noch die Bezahlsender-Plattform Sky, der Infrastruktur-Anbieter Kabel Deutschland und Fernseh-Produktionsfirmen wie die Maximus-Film, die für alle Arten Sender zwischen Arte (“Die gefährlichsten Schulwege der Welt”) und sogenannten Nachrichtenkanälen (“Die härtesten Gefängnisse der Welt”) reihenförmige Dokus mit attraktiven Superlativ-Titeln herstellt.
Rund ums Medienviertel befindet sich funktionale Begrünung, in der die Mitarbeiter ein wenig spazieren gehen könnten. Neben dem Fußweg sind Tafeln in den Boden eingelassen sind, die in netter Form mit “Unterföhring im Wandel der Zeiten” vertraut machen. Dort erfährt man etwa, dass Unterföhring in der ganzen, insgesamt nicht ganz tausendjährigen Zeit des Heiligen Römischen Reichs überhaupt nicht bayerisch war, sondern zum verstreuten Territorium des kleinen Fürstbistums Freising gehörte.
Was ganz am Ende dieser Zeit dazu führte, dass dort größere Medienfreiheit herrschte als in München, erfährt man beim Nach-Duckduckgoen (oder halt -Googeln) via nordostkultur-muenchen.de:
“Während der Französischen Revolution 1789 verfügte Kurfürst Karl Theodor, dass in München Bücher und Zeitungen zensiert wurden. Vor allem die ‘Oberdeutsche Zeitung’, die ihre freiheitlichen Ansichten über die Obrigkeit, den Adel und die Kirche verbreitete, war ihm ein Dorn im Auge. Der Freisinger Fürstbischof hingegen ließ die Journalisten gewähren. Dies nutzten zahlreiche Münchner und lasen in Föhring ungestraft die verbotenen und daher um so interessanteren Schriften.”
Eigentlich müsste der Medienstandort Unterföhring diese hübsche Episode noch in seinen Bodenplatten-Geschichtsschnelldurchlauf integrieren.
Ich war im September wegen eines “epd medien”-Berichts über den neu gegründeten Fernsehsender Kabel Eins Doku dort gewesen und habe mir dann noch den Rest von Unterföhring angesehen. Er ist überschaubar. Weiter nach Westen, jenseits der S-Bahn-Strecke, die Unterföhring mit München (und am anderen Ende dem Flughafen) verbindet, heißt die Medienallee dann Bahnhofstraße.
Sie führt zum Rathaus und einem noch neueren Neubau schräg gegenüber. Dem extravaganten Bürgerhaus lässt sich auf den ersten Blick ansehen, dass Unterföhring nicht gerade zu den armen Kommunen gehört. “Diese Gemeinde hat mehr Geld, als sie ausgeben kann”, schrieb die Süddeutsche Zeitung, deren Bayern-Kompentenz über alle Zweifel erhaben ist, im Februar 2016.
Noch ein Stückchen weiter westlich befindet sich Unterföhrings einzige relative Sehenswürdigkeit (wenn man mal das teure Kunstwerk am S-Bahnhof ausklammert): die Zwiebelturmkirche St. Valentin. Der spätbarocke Bau, den die Freisinger Landesherren 1717/18 anstelle einer baufälligen älteren Kirche errichten ließen, gehöre “unter den Landkirchen … zu den besseren”, zitiert das Kirchenführer-Heftchen des Verlags Schnell & Steiner, das in der Kirche zu erwerben ist, eine Einschätzung des 18. Jahrhunderts. Diese Bescheidenheit scheint in der Sache keineswegs übertrieben, ziert Unterföhring aber.
Wer noch ein bisschen weiter in der gleichen Richtung geht, gelangt an einen Fluss beziehungsweise an zwei: den Isarkanal und die Isar. Zwischen ihnen führt ein Deich-Fußweg entlang. Die Isar rauscht mächtig, und … schwupps, ist man nach einer knappen Stunde in südlicher Richtung an dem Stauwehr, das von der anderen Seite her kennen könnte, wer schon mal durch den Englischen Garten in München gelaufen ist. Darauf lässt sich die Isar überqueren –was zur Gründungslegende Münchens führt, das schließlich keineswegs zu den ältesten Städten Bayerns gehört. Auch dabei ging es um eine Isarbrücke:
“1157 kommt es … zum Konflikt zwischen Bischof Otto von Freising und dem Welfenherzog Heinrich dem Löwen, Markt und Brücke von Föhring werden zerstört (Gründung Münchens 1158). Mit der Umleitung der Salztransporte auf die neue Münchner Isarbrücke blüht München auf. 1180 werden erstmals Ober- und Unterföhring getrennt genannt. Oberföhring verliert nach der Umleitung der Salzstraße infolge ausbleibender Einnahmen stark an Bedeutung und bleibt fortan ein kleines unbedeutendes Bauerndorf am Südrand des Hochstifts Freising”,
heißt es noch mal bei auf nordostkultur-muenchen.de. Heute ist Oberföhring ein Stadtteil Münchens. Und Unterföhring eine der reichsten Medienmetropolen Deutschlands …
Heinrich der Löwe wiederum könnte als spannende Persönlichkeit erscheinen, weil er einer der großen Verlierer der deutschen Geschichte war: Zunächst war er im 12. Jahrhundert einer der mächtigsten Herrscher in Deutschland oder sogar Europa und beherrschte sowohl Bayern als auch Sachsen (wobei es sich nicht um das heutige Sachsen, sondern das heutige Niedersachsen handelte), später verlor er in langwierigen Auseinandersetzungen mit dem Kaiser Friedrich Barbarossa alles, verfiel in Reichsacht und durfte am Ende froh sein, aus dem Exil immerhin wieder in seine Hauptstadt Braunschweig zurückkehren zu können.
Andererseits ist er als Gründer verdammt vieler, oft immer noch großer Städte wie eben München im Süden, Lübeck, Schwerin und Ratzeburg im Norden geläufig (was nicht unbedingt heißt, dass der Ruhm historisch berechtigt wäre). Löwen, die an ihn erinnern, stehen vielerorts, längst nicht nur in Braunschweig.
Und dass Braunschweiger Fußballspieler und -fans so wie die des sympathischen Vereins aus München sich “Löwen” nennen, hat mittelbar vermutlich ebenfalls mit ihm zu tun. Auch darüber kann man auf dem Weg aus der Unterföhringer Medienallee an der Isar entlang und durch den schönen Englischen Garten räsonieren.