Ortsnamen dürfen natürlich nicht überbewertet werden. Meistens sind sie vor Jahrhunderten entstanden und bedeuten nicht, wonach sie in der Gegenwart vielleicht klingen. Nur zum Beispiel: Die Stadt Wissen beeindruckt Besucher durch ihren extravaganten Parkhaus-Bahnhof “mit Tonnengewölbe-Dach und aufgeständertem Parkdeck” mitten im Ort.
Und vielleicht noch durch die Veranstaltungshalle, in die ein großes historisches Weißblechwerk-Walzwerk nach seiner Stilllegung umgewandelt wurde. Aber mit dem, was ihr Name nahelegt, hat sie wenig zu tun. Manche Ortsnamen stehen aber doch in bemerkenswertem Einklang mit den Ortschaften, die sie bezeichnen, weil sie Eindrücke, Ahnungen und Klischees zum Klingen bringen.
Zum Beispiel Ingelfingen. Dabei handelt es sich um eine Kleinstadt im Hohenlohekreis im nördlichen Württemberg. Sie liegt unterhalb eines Weinbergs, auf dem sich nicht nur Weinbergschnecken tummeln, sondern, zumindest wenn man ihn an einem weniger schönen Tag besteigt, auch Rehe. Eigentlich schmiegt sich Ingelfingen eher an den Weinberg, und ist dabei noch von allerhand Stadtmauer umgeben, für die ehemalige und aktuelle Einwohner oft sinnvolle Anschlussverwendungen gefunden haben.
Oben auf dem Hügel, dessen Name Hohenberg freilich etwas übertrieben scheint, steht dann natürlich eine Burgruine, deren Fensteröffnungen wie zwei Augen ins Tal schauen (wie sich das für echte Ruinen gehört).
Unten aus dem Ort ragt der Kirchturm mit einem interessanten Anteil Fachwerk empor, wohingegen das Schloss so eng umbaut von Wohnhäusern ist, dass es selbst vom Weinberg aus erst auf den zweiten Blick auffällt. Obwohl Sichtachsen bei im 18. Jahrhundert erbauten Schlössern eigentlich verdammt wichtig waren, ist eine Frontalsicht auf das Ingelfinger Schloss eigentlich gar nicht möglich. Eher fallen beim Blick vom Weinberg größere Fabrikgelände im Hintergrund auf. Schließlich präsentiert der Hohenlohekreis, obwohl er landschaftlich schön ist, sich als der Landkreis mit “höchsten Dichte an Weltmarktführern in Deutschland”.
Was Ingelfinger Unternehmen so herstellen, wiederum nur zum Beispiel: “schwerentflammbare Polsterkunstleder … für den Objekt- und Medizinbereich”, also Produkte, von denen Endverbraucher meistens niemals etwas erfahren.
Zu weiteren Sehenwürdigkeiten zählen dann noch ein kleines Zollhaus aus dem Jahre 1786 an der Brücke über den Fluss, den Kocher. Denn, wie das Schloss schon andeutet, Hauptstädtchen eines eigenen Staaats war Ingelfingen. Das ganze 18. Jahrhundert lang regierten dort die Grafen von Hohenlohe-Ingelfingen, die 1764 sogar den noch höheren Titel der Fürsten erhielten. Allerdings galt diese Aufwertung allen bis zu zehn Linien der Hohenlohes, die seinerzeit auf einem Gebiet, das in der Gegenwart mehr oder weniger einen Landkreis ausmacht, in eigenen stattlichen Schlössern residierten. Das wiederhergestellte Zollhaus fungiert heutzutage als Bushäuschen, so wie das Schloss als Sitz der Stadtverwaltung dient. Pragmatisch sind die Hohenloher.
Noch eine Sehenswürdigkeit ist die klassizistische Apotheke ebenfalls aus dem Jahre 1786. Die Fürsten hatten sie errichten lassen, um im Ort die Wirtschaft anzukurbeln, informiert eine daran befestigte Texttafel, die überdies versucht am “Dunkelgräfin”-Fame teilzuhaben: Das war eine einst geheimnisumwitterte französische Aristokratin, die während der Revolutionszeit, in der ihresgleichen in Frankreich guillotiniert wurde, geheimnisvoll anonym durch Deutschland gereist ist. Sie könnte die Tochter des enthaupteten Königspaars sein, hieß es von ihr. Angesichts wesentlich größerer späterer Schrecken ist dieses (vor allem im thüringischen Hildburghausen gepflegte) Geheimnis verblasst, wenn nicht sogar entzaubert. Vielleicht könnte es auch eine Reanimation vertragen.
Falls Sie sich fragen, was Herrscher eines derart überschaubaren Fürstentümchens außer Apotheken zu gründen noch so gemacht haben: in dieser Funktion wohl wenig. Die Hohenlohe-Ingelfinger beschäftigten sich in erster Linie mit dem, was Fürsten wesentlich größerer Kleinstaaten zu ihrer Zeit ebenfalls taten. Sie versuchten, in Armeen größerer Staaten Karriere zu machen.
Der letzte souveräne Ingelfinger Fürst, bevor die Hohenloher Herrschaften 1806 überwiegend ans neue Königreich Württemberg fielen, Friedrich Ludwig, war im Siebenjährigen Krieg für die Armee des Heiligen Römischen Reichs aktiv und wechselte nach deren Niederlage dann zu den Siegern. In der preußischen Armee erwarb er Ruhm durch seine Beteiligung am Sieg 1793 in der Schlacht bei Kaiserslautern, die höchstens noch deswegen Aufmerksamkeit verdient, weil bei den Preußen vermutlich der spätere Dichter Heinrich von Kleist als 16-jähriger Kindersoldat dabei war (und vielleicht eines der Traumata erlitt, aus denen er später schöpfte). Der Fürst stieg zum General auf. In dieser Funktion kapitulierte er 1806 völlig woanders, bei Prenzlau in der Uckermark, vor Napoleons französischer Armee, was damals einen großen Skandal auslöste, aus dessen Schatten der Fürst sein Leben lang nicht mehr trat. Dabei könnte so eine Kapitulation aus heutiger Sicht, in der Kriege und vermiedenes Blutvergießen völlig anders beurteilt werden, vernünftig erscheinen. Bloß ist auch diese Episode ziemlich vergessen.
Was man auch noch über Ingelfingen wissen wollen könnte: Es trägt den Titel des staatlich anerkannten Erholungsorts, der etwas altbacken klingen mag, aber absolut berechtigt ist, erst seit den 1990ern.
Es enthält in der alten Kelter ein Muschelkalkmuseum und auf einem weiteren Weinberg “Europas zweitgrößtes Holzfass”, das allerdings deutlich kleiner und jünger ist als das aus Bad Dürkheim, das neulich hier Thema war.
Und per Bahn ist Ingelfingen nicht zu erreichen, sondern, außer natürlich im Auto, nur per Bus aus der Kreisstadt Künzelsau, die ebenfalls nur per Bus zu erreichen ist. Im Hohenlohekreis mit der höchsten Weltmarktführer-Dichte ist die Eisenbahn großenteils stillgelegt (was womöglich auch pragmatisch ist, schließlich sind viele deutsche Weltmarktführer ja Automobil-Zulieferer).
Man kann aber auch einfach zu Fuß am Kocher entlang gehen: Von Künzelsau nach Ingelfingen sind’s gut drei Kilometer.
Sich über dies Wissen lustig zu machen, obwohl Ortsnamen „natürlich nicht überbewertet werden dürfen“, ist aber auch nicht die ganz feine Art 😉
Lustig machen: jein, würd ich sagen. Aber stimmt, auch dieses Wissen an der Sieg sollte einen eigenen Text bekommen. Folgt in Bälde.