Wolfsburg (Niedersachsen) dient in der unmittelbaren Gegenwart gern als Witzort, sei es, weil der Fußballlehrer Felix Magath als harter Anhänger der Lehre von der Austauschbarkeit des Individuums die junge Onlinemedien-Gattung Transfermarktticker seitens der Bundesliga ganz allein am Leben hält. Sei es, weil Ende 2011 wiederholt ICE-Lokführer vergessen hatten, in Wolfsburg anzuhalten.
Dabei erkennt man Wolfsburg beim Durchfahren im Zug immer gut – an der gewaltigen VW-Fabrik, diversen modernistischen Glasbauwerken und ein paar 1000 Designeroutlet-Läden entlang des schnurgeraden Mittellandkanals. Und ehrlich gesagt, freut man sich als Berliner, wenn ICEs nicht in Wolfsburg halten, weil man dann ein paar Minuten schneller am Ziel ist.
Wenn man es sich dann aber einfach mal selbst zum Ziel macht, füllt die Stadt erst einmal alle Vorurteile mit Leben, gleich schon auf der Brücke über den Kanal. Zur Autostadt, dieser “emotionalisierenden” “Erlebniswelt der Mobilität” (wolfsburg.de), führen nicht nur Rolltreppen, sondern auch Laufbänder wie in Flughäfen und Messegeländen, so dass “Automobilisten und solche, die es werden wollen” (Volkswagen AutoMuseum) keine eigenständige Fußbewegung mehr als unbedingt nötig ausführen müssen.
Zwischen umfangreichen Parklandschaften (also zum Autoabstellen) befinden sich, muss man jedoch zugeben, sowohl ein sauber gekennzeichnetes Fahrradwegenetz als auch üppige Begrünung, ganz zu schweigen von viel Erlebnisarchitektur, die Wolfsburg keineswegs schüchtern bewirbt. “Eines der zwölf bedeutendsten modernen Bauwerke der Welt” enthält die Stadt etwa und meint damit noch so ein Erlebnismuseum, “phæno – Die Experimentierlandschaft”. Das von Zaha Hadid geplante Gebäude belegt in einem diesbezüglichen Ranking des englischen Guardian tatsächlich Platz 10.
Was jedenfalls für Wolfsburg spricht: dass Besucher gar nicht unbedingt mit den Volkswagen heulen müssen, weil fußläufig auch authentischere oder zumindest ältere Begrünung vorhanden ist. Man findet sie etwa um das Bauwerk herum, das der Stadt ihren aktuellen Namen gab. Zu Wolfsburg wurde der bei seiner Gründung 1938 noch “Stadt des KdF-Wagens” benannte Ort nämlich nicht etwa, weil Reichsjägermeister Hermann Göring so gern Wölfe jagte (der letzte in der Gegend erjagte Wolf wurde schon wesentlich früher erlegt und steht ausgestopft im Stadtmuseum), sondern, als das mit KdF 1945 nicht mehr opportun war, der viel älteren Wolfsburg wegen (Achtung, Foto oben, nicht hier rechts).
Die ist, bzw. ihr Bergfried, also der massivste Turm ist über 700 Jahre alt. Der Rest drumherum wurde im späten 16. Jahrhundert nach dem Muster der Weserrenaissance, also mit Ziergiebeln, zum Schloss umgebaut. Schloss Wolfsburg, wie es dann hieß (mehr dazu hier), lag mitten in einem komplizierten Dreiländereck, an das diverse Grenzsteine erinnern. Eigentlich grenzten hier das Königreich Hannover und das Herzogtum Braunschweig aneinander, Alt-Wolfsburg aber gehörte zu Brandenburg bzw. dann Preußen. Eine hübsche Legende besagt, dass sich das eigentliche Dreiländereck auf dem Herd der Schlossküche befand.
Von so etwas erzählt das Wolfsburger Stadtmuseum in der Remise neben der Burg, das mit der gleichen Freude an Details bzw. an deren Aussagekraft für die jeweiligen Alltage ein Plumpsklo aus dem 17. Jahrhundert (“Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurde es geschlossen”) und einen “kompletten Frisiersalon der 1950er Jahre” zeigt.
Aus der bunten Mischung ergibt sich ein Bild, in was für einer dörflichen, 1937 noch 857 Einwohner zählenden Gegend die Nazis ihre Industriestadt aus dem Boden stampften und mit Arbeitern von überall her (zunächst auch mit freiwilligen aus dem damals mit Nazideutschland verbündeten Italien, später auch mit Zwangsarbeitern) bevölkerten. Und wie ihre Pläne zunächst nur bruchstückhaft verwirklicht wurden – bis 1945 entstanden tatsächlich keine 3000 neuen Wohnungen für die geplante 100.000-Einwohner-Stadt -, weil ein anderes Nazi-Projekt dazwischen kam, der Zweite Weltkrieg. Aber im Frieden wurden sie anders weiterverfolgt, bald auch vom selben Architekten (Peter Koller), und von vielen Vertriebenen neu bevölkert.
Bescheidenheit zählt nicht zu den Dingen, unter denen Wolfsburg (“…gilt als eine der bedeutendsten Stadtgründungen des 20. Jahrhunderts”, wolfsburg.de) leidet. Aber wenn man von der altertümlichen Straße hinter der Wolfsburg mit einer gedrungenen Kirche aus dem 15. Jahrhundert und Fachwerkhäusern durch den ganz hübschen Schlosspark an einem echten, nicht schnurgeraden Fluss (der Aller) entlang zurück in das Wolfsburg geht, zu dem Fußballfreunde natürlich auch das der transferunwilligen Spielerfrau Beatrix Ivanauskas zugeschriebene Zitat “In Wolfsburg kann man nicht leben” kennen, muss man der heutigen 120.000-Einwohner-Stadt zumindest enormen Kontrastreichtum konzedieren, der sich nicht allein Stararchitekten der unmittelbareren Gegenwarten verdankt, sondern einer bewegten Vergangenheit.